Katja Sinko übers Europaretten: „Ich will nicht zur Schlafwandlerin werden“

, von  Marie Menke

Katja Sinko übers Europaretten: „Ich will nicht zur Schlafwandlerin werden“
Megaphone, Demoschild und los: Katja Sinko beim March For A New Europe. Fotoquelle: Zur Verfügung gestellt von Mirko Lux.

Schwarze Jeans, grauer Strickpullover, Megaphone in der einen Hand, neonpinkes Schild mit der Aufschrift „Wir halten unsere Werte hoch!“ in der anderen: Katja Sinko hatte 2016 das Gefühl, dass es mit Europa nicht so weitergehen kann wie bisher. Heute leitet sie die pro-europäische Kampagne THE EUROPEAN MOMENT.

Als sie ans Telefon geht, ist sie gerade erst aufgewacht – verschlafen klingt Katja Sinko aber nicht. Sie wirkt quirlig und redet schnell, selten von Zuständen, fast immer von Prozessen und Veränderungen. Sich selbst beschreibt sie als Macherin: Zwar hat sie European Studies studiert, aber viel mehr habe ihr Engagement ihr beigebracht. Sie sei eben „eher praktisch veranlagt, keine Theoretikerin, komme eher aus der politischen Bildungsarbeit“.

Als Kampagnenleiterin bringt sie pro-europäische Organisationen zusammen, organisiert Petitionen und Demonstrationen in Berlin und schreibt auf Facebook und der Kampagnen-Webseite über das Europaretten und -verändern. Mit sechzehn ging sie für ein Schuljahr ins schwedische Lindesberg. „Da war vor allem die Erkenntnis, dass das einfach so geht: Auch wenn es mir damals noch nicht so bewusst war, hat es Europa möglich gemacht, dass ich problemlos ein Jahr in einem anderen Land zur Schule gehen konnte,“ sagt sie rückblickend.

In Berlin und auch in Köln gingen junge Menschen mit der Unterstützung zahlreicher Organisationen beim March For A New Europe auf die Straße. Fotoquelle: Zur Verfügung gestellt von Frieder Unselt und Christine Mitru.

Um European Studies zu studieren, zog sie nach dem Abitur zuerst nach Magdeburg, für den Master dann nach Frankfurt an der Oder. Für den Erasmusmoment und das Erlebnis, eine WG mit Mitbewohner*innen aus ganz Europa zu teilen, ging es zwischendurch nach Manchester, und um noch mehr EU-Luft zu schnuppern und das Institutionendreieck richtig zu verstehen, für ein Praktikum bei der Friedrich-Ebert-Stiftung nach Brüssel. In Berlin gelandet ist sie letztendlich wegen des Gefühls, dort etwas bewegen zu können: „Ich glaube, Europa muss in den Nationalstaaten vermittelt werden: Das geht nur bedingt von Brüssel aus.“ Wir haben mit ihr über Elitenkritik, politische Allianzen und europäische Visionen gesprochen.

„Europa ist in Gefahr. Erneuern wir es!“, steht auf der Webseite von THE EUROPEAN MOMENT. Was gibt es denn gerade konkret zu erneuern?

Ich glaube, das A und O ist, dass die EU demokratisiert werden muss, um diese Vertrauenskrise, die wir haben, aufzulösen. Die Gleichheit der Menschen ist wichtig, weil wir spüren können, wenn etwas nicht fair ist. Genauso speist sich das Gefühl von fehlender Fairness davon, dass vieles intransparent ist: Da ist zum Beispiel das Lobbyregister, das noch nicht verbindlich ist. Oder die Sitzungen des Europäischen Rats: Dort wird über die Zukunft der EU entschieden. Warum sind sie dann nicht öffentlich?

Wir hören so oft, dass die EU ein Wirtschaftsprojekt ist, aber jetzt müssen wir dafür sorgen, dass die EU demokratisiert wird und zu einer Union der Bürgerinnen und Bürger wird. Transnationale Listen sind so ein typisches Thema, das die Jungen Europäischen Föderalisten e.V. vertreten, aber ich glaube, dass es wirklich wichtig ist: Stellt euch vor, Macron würde - rein fiktiv gedacht - plötzlich auf die Idee kommen, sich für die Europawahlen aufzustellen, und wir in Deutschland könnten ihn genauso wählen wie Bürger*innen in Finnland, Polen und Frankreich! Dann würden sich auch die Themen hin zu europäischen wandeln, dann würde es um Europa gehen. Auch die Forderung, dem Europäischen Parlament ein Initiativrecht zu geben, ist keinesfalls neu: Die ist schon seit Jahren in irgendeiner Schublade, aber da ist noch nichts passiert.

Wer der EU fehlende Solidarität vorwirft, spricht von ihr als Elitenprojekt. Findest du diese Kritik berechtigt?

Ja, ich finde schon, dass die EU ein Elitenprojekt ist. Wer profitiert denn aktuell von ihr? Wir, die Produkte aus dem Ausland kaufen, die ins Ausland reisen, die Erasmus machen. Ich habe viele schöne Erfahrungen gemacht, die mir die EU ermöglicht hat: Als ich in meiner Schulzeit zum Beispiel im Schüleraustausch in Schweden war, habe ich gemerkt, dass es gar nicht so sehr die Nationalität ist, die uns und unsere Meinung beeinflusst, sondern viel mehr unsere unterschiedlichen Charaktere und Wünsche, egal woher wir kommen. Ich hatte das Gefühl, dass die Schüler*innen vor Ort und ich viel mehr gemein hatten, als dass wir verschieden waren.

„Wir halten unsere Werte hoch!“ Fotoquelle: Zur Verfügung gestellt von Mirko Lux.

Aber ich will, dass solche Erfahrungen allen ermöglicht werden. Da ist wieder dieser Solidaritätsgedanke, daran muss noch geschraubt werden. Erasmus+ gibt es zum Beispiel auch für Azubis, aber das muss viel weiter ausgebaut werden. Deshalb finde ich die Initiative FreeInterrail super: So wie Vincent und Martin sich das gedacht haben, ist es nämlich etwas, das jedem ein Europagefühl ermöglichen würde – und nicht nur denen, die Interrail schon längst kennen oder es sich leisten können.

THE EUROPEAN MOMENT ist eine Bewegung, die anstecken möchte. Wie schwierig ist es, junge Menschen zu mobilisieren, die mit Europa und der EU wenig anfangen können?

Menschen ganz ohne EU-Bezug zu mobilisieren, das ist schon schwierig. Als EU-Seminartrainerin der Schwarzkopf-Stiftung bin ich viel an Schulen in Berlin und Brandenburg unterwegs und da fährt man eben nicht jedes Jahr in ein anderes EU-Land in den Urlaub. Dann ist es schwieriger, den Alltagsbezug herzustellen. „Die EU ist toll!“ zu sagen, das bringt nichts. Ich glaube, dass die EU aus der Krise heraus erzählt werden muss: Vieles läuft schief und genau das wollen wir jetzt ändern. Natürlich bewegen wir uns dabei in einer Blase: Unter denen, die sich von uns angesprochen fühlen, befinden sich viele, die sowieso einen Bezug zur EU haben oder sogar schon politisch organisiert sind.

Aber das Ziel ist auszubrechen. Dafür wollen wir im Vorfeld der Europawahl zum Beispiel stärker mit Initiativen und Organisationen kooperieren, die andere Themen in ihren Mittelpunkt stellen: Umweltorganisationen oder feministische und migrantische Organisationen zum Beispiel. Die kämpfen alle an ihren eigenen Fronten, aber letztendlich tüfteln sie an Problemen, für die es gesamteuropäische Lösungen braucht. Bei jedem Treffen von THE EUROPEAN MOMENT war bisher mindestens ein neues Gesicht dabei: Das sind oft Leute, die davon gehört haben, aber noch nicht zwingend politisch organisiert sind. Aus dieser Europa-Blase kann man nur Schritt für Schritt ausbrechen: Leicht ist es nicht, unmöglich aber auch nicht.

Europaretten, das klingt erstmal ziemlich abstrakt. Wie sieht so ein Tagesablauf bei dir aus?

Ich stehe auf, frühstücke, setze mich an den Schreibtisch, telefoniere und schreibe E-Mails wie wild. Mal ist es etwas ruhiger, in den Hochzeiten ist wirklich viel zu tun. Da müssen Follow-Up-Mails nach Treffen geschrieben, vor Demonstrationen mit der Polizei telefoniert und Facebook und Twitter bespielt werden. Da hab ich oft tausend kleine Dinge im Kopf, das ist ganz viel Organisationsarbeit. Riesig viel Spaß macht das auch nicht immer, aber man sieht eben das große Ganze am Ende.

Mir ist wichtig, zwischen den Organisationen und Initiativen Vertrauen aufzubauen, also viel miteinander zu telefonieren und sich abzusprechen. Ich selbst bin auch immer abrufbar: Es gab Zeiten, da trudelten gefühlt im Minutentakt neue E-Mails bei mir ein. Dann arbeite ich auch noch an der Uni in Frankfurt an der Oder und zum Beispiel für die Schwarzkopf-Stiftung und schiebe auch mal eine Podiumsdiskussion mit in meinen Kalender. Das ist viel, was man unter einen Hut bekommen muss, aber möglich ist es. Und dann versuche ich noch, ab und zu zum Yoga zu gehen.

„Europa ist, was wir daraus machen.“ Fotoquelle: Zur Verfügung gestellt von Frieder Unselt.

THE EUROPEAN MOMENT gibt es inzwischen schon eine Weile. Was hat sich in den letzten beiden Jahren innerhalb der Bewegung verändert?

Als wir angefangen hatten, hatten wir kaum bis keine Erfahrung mit Kampagnenarbeit. Wir wollten nur etwas verändern. Deshalb haben wir für unsere Kampagne auch nicht die typischen Europafarben genommen – sondern stattdessen Farben, die noch nicht weiter politisch konnotiert sind. Wir wollten ja ein neues Europa. Und wir wollten Gleichgewicht in die Berichterstattung bringen, indem wir eben denen eine Stimme geben, die für ein weltoffenes Europa stehen und oftmals in der medialen Darstellung gar nicht vorkommen.

Wir haben da auch heute keine wirkliche Strategie: Wir machen es einfach, wie wir glauben, dass es funktionieren könnte. Manchmal war das richtige Gefühl einfach nicht da, dann gab es auch mal Momente, in denen es nicht klappte. Als Macron gewählt wurde, hatten viele das Gefühl, jetzt wäre die EU schon gerettet, da sind zum Beispiel viele zuhause geblieben. Viel getan hat sich aber auch in der Zusammenarbeit mit anderen Organisationen: Da wurde Vertrauen aufgebaut, um daran zu arbeiten, auf mehr als nur den kleinsten gemeinsamen Nenner zu kommen.

Und für dich ganz persönlich: Was ist heute anders als noch vor zwei Jahren?

Gelernt habe ich vor allem eins: Dafür sein ist schwieriger als dagegen. Das spornt aber auch an. Inzwischen mache ich das ja praktisch in Vollzeit – es gibt schon einen Grund, warum ich seit zwei Jahren nicht mehr an meiner Masterarbeit gesessen habe. Da kam immer wieder eine neue Aktion, eine neue Demo. Wenn es nicht so gut lief, habe ich auch mal darüber nachgedacht, ob aufhören eigentlich eine Option ist. Aber dann denke ich mir jedes Mal: Wer, wenn nicht wir? Der Gedanke motiviert mich wie nichts anderes.

Und noch etwas hat sich für mich geändert: Wenn ich heute auf mein Handy schaue, ist mein Kontaktbuch voll mit Menschen, die auch etwas verändern möchten und nicht länger still sitzen können. Wenn ich etwas starten will, weiß ich, wen ich anrufen muss. Das gibt mir Hoffnung und die nötige Motivation, um weiterzumachen. Ich bin nicht alleine und wir werden immer mehr.

Mit Blick nach vorne: 2019 wird ein spannendes Jahr für die EU, oder?

Mittlerweile bin ich an einem Punkt, an dem ich merke, dass es schön ist, noch ein Europa-Picknick zu organisieren, aber das reicht nicht. Als wir angefangen haben, war viel passiert: Brexit, Trump, die AfD – da hab ich einfach gedacht, da muss man doch etwas machen. Heute habe ich Angst, 2019 aufzuwachen und mich wie all die jungen Brit*innen zu fühlen, die den Brexit nicht erwartet, aber schon gefürchtet haben. Was wenn nach den Wahlen 2019 anti-europäische, nationalistische Politiker*innen in der Mehrzahl im Europäischen Parlament sitzen? Dann sieht es nämlich ziemlich mies aus für uns Proeuropäer*innen.

Ich glaube, heute verstehe ich selbst mehr als je zuvor, um wie viel es geht. Wir müssen auch mal raus aus unserer Komfortzone, müssen auch mal anecken, müssen disruptiv sein, es erst einmal auch etwas wehtun lassen. Vielen sollte bewusst werden, dass es 2019 um eine Richtungsentscheidung geht: Wollen wir rückwärtsgewandt oder progressiv sein? Ich will nicht zu einer Schlafwandlerin werden, die die Realität verkennt. Da bin ich heute wahrscheinlich auch etwas weniger optimistisch als noch am Anfang.

Fotoquelle: Zur Verfügung gestellt von Frieder Unselt und Christine Mitru.

Was wünscht du dir konkret für das kommende Jahr?

Ich wünsche mir, dass wir alle zusammenarbeiten, um 2019 ein deutliches Signal zu setzen: Wir wollen ein erneuertes Europa – und wir, das sind nicht nur Teile der deutschen Jugend, denn die reicht nicht. Das muss die Jugend Europas sein, die den Entscheidungsträger*innen im Mai 2019 klar macht: Wir wollen Europa, aber ein anderes, ein solidarisches Europa. Ideen, wie das konkret aussehen kann, gibt es schon. Wir von THE EUROPEAN MOMENT und anderen Initiativen tun uns zusammen und planen mal wieder groß. Ich sage immer, „Machen ist wie wollen, nur krasser.“ Man muss sich eben organisieren und Allianzen bilden, denn das können die politisch Rechten - jedenfalls noch - viel besser als die politisch Progressiven.

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