Klima- und Umweltpolitik: „Elektromotor“ europäischer Integration?

, von  Ida Leinfelder

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Klima- und Umweltpolitik: „Elektromotor“ europäischer Integration?
Bei einer Fridays for Future-Demonstration in Berlin wird eine Europaflagge geschwenkt. Foto: Unsplash / Nico Roicke / Unsplash License

Mit dem European Green Deal rückt Klima- und Umweltschutz ins Zentrum europäischer Politik, doch die Anzahl der Mitgliedstaaten verkompliziert die Koordination gemeinsamer politischer Schritte. Wie kommt es, dass die EU erst jetzt verbindliche Reduktionsschritte für ein klimaneutrales Europa 2050 vereinbart hat?

Europäische Integration ist ein abstrakter Begriff für einen komplexen dynamischen Prozess. „Integration“ beschreibt die zunehmende Zusammenarbeit von Staaten oder Regionen. Im Gegenteil zu Kooperationsprozessen werden bei Integrationsprozessen Kompetenzen nationaler Souveränität an eine supranationale, also höher gestellte Ebene, abgegeben. Die Staaten können dann nicht mehr gänzlich souverän handeln. Im System der EU wird die Souveränität der Mitgliedstaaten zum Beispiel durch Mehrheitsentscheidungen im Rat der EU oder durch den Vorrang des europäischen Rechts vor nationalem Recht gebrochen.

Was bedeutet „europäische Integration“?

Als „Motor der europäischen Integration“ wird, neben der Kommission, auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) bezeichnet, denn er ist dafür zuständig zu kontrollieren, dass Europarecht, auch „Unionsrecht“ genannt, in allen Mitgliedstaaten einheitlich ausgelegt und angewandt wird. Dabei wird er auch von den nationalen Gerichten der Mitgliedstaaten unterstützt: Sie werden als „Unionsgerichte im funktionellen Sinne“ bezeichnet, weil sie, genau wie der EuGH, das Europarecht anwenden.

Das Ziel europäischer Integration ist die immer engere Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten. Weil es sich dabei um einen andauernden Prozess handelt, ist das Ende offen: Man könnte sagen, wir stecken mittendrin. Europäische Integration findet dann statt, wenn zum Beispiel neue Mitglieder in die EU aufgenommen werden oder die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten vertieft wird.

Europäische Umweltpolitik: Wer darf was?

Um die Bedeutung der Klima- und Umweltpolitik für die europäische Integration zu verstehen, muss man schauen, wie in diesem Politikbereich Kompetenzen verteilt sind. Dabei wird unterschieden zwischen Kompetenzfeldern, in denen die EU die alleinige Zuständigkeit hat, oft gemeinsame Politik genannt, jenen, in denen sie kein Mitspracherecht hat, die also zwischenstaatliche Politik betreffen, und jenen dazwischen, der sogenannten flankierenden Politik, in die auch die Umweltpolitik fällt. Das bedeutet, dass die politischen Aufgaben in diesem Bereich regional vorgenommen werden: Die EU wird in flankierenden Politikbereichen erst dann aktiv, wenn sie der Auffassung ist, dass regionale Maßnahmen nicht ausreichen und sich Maßnahmen auf der Gemeinschaftsebene besser verwirklichen lassen. Dieses Vorgehen unterliegt also dem sogenannten Subsidiaritätsprinzip.

Der EU ist damit also durchaus möglich, in Sachen Umweltpolitik tätig zu werden. Dazu zählen z.B. Luft- und Wasserverschmutzung, Abfallentsorgung und die Bekämpfung der Klimakrise. Seit dem Aufbau des EU-Umweltrechts in den 1970er Jahren sind dabei mehrere hundert Beschlüsse, Verordnungen und Richtlinien in Kraft getreten. Darin enthalten sind auch Mindestkriterien für Umweltinspektionen und strafrechtliche Sanktionen, mit denen illegale Handlungen, die zur Schädigung der Umwelt führen, bestraft werden.

Recht auf saubere Luft: Wer kontrolliert die Umsetzung?

Das Europäische Parlament (EP) hat jedoch schon mehrfach kritisiert, dass die Durchsetzung der EU-Umweltpolitik verbessert werden müsste. Die Kompetenzen des EPs gehen allerdings nicht so weit, selbst Richtlinien und Verordnungen erlassen zu können. Das Initiativrecht für Gesetze liegt allein bei der Kommission, die solche vorschlagen darf. Trotzdem können die Mitglieder des EPs die Kommission zur Einleitung von Gesetzgebungsverfahren auffordern - und auch im Rat der EU, in dem sich die nationalen Umweltminister*innen etwa viermal im Jahr treffen, diskutieren und entscheiden letztere über die Gesetzesvorschläge der Kommission.

Wenn die Regierungen der Mitgliedstaaten die von der EU beschlossenen Maßnahmen nicht umsetzen oder unzureichende nationale Gesetze verabschieden, gibt es aber noch eine andere Möglichkeit, um die von der EU festgelegten Umweltauflagen geltend zu machen: Privatpersonen aber auch Vereine oder Verbände können vor ihren nationalen Gerichten die Anwendung europäischen Rechts einfordern, wenn sie beweisen können, dass sie in ihren Rechten verletzt wurden. Das nationale Gericht prüft dann die Klage und entscheidet auf Grundlage des geltenden europäischen, nicht auf Grundlage des nationalen Rechts.

Vereine wie die Deutsche Umwelthilfe e.V. (DUH) setzen sich genau an dieser Stelle dafür ein, Rechte für Verbraucher*innen und Umweltschutz durchzusetzen. Erst im Frühjahr 2020 verklagte die DUH die deutsche Bundesregierung auf die Nicht-Einhaltung von Luftschadstoffgrenzen: Die DUH stellte fest, dass Deutschland mit seinen aktuellen Maßnahmen die verbindlichen EU-Vorgaben zur Minderung der Schadstoffe in der Luft verfehle. Momentan liegt die Klage dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg vor. Aber auch einzelne Landesbehörden wurden bereits wegen der Missachtung von EU-Stickstoff-Grenzwerten in der Luft von der DUH verklagt. Solche „Klagen für saubere Luft“ verliefen bisher in über 30 Städten erfolgreich. Rechtliche Grundlage ist dabei ein am 25. Juli 2008 vom EuGH gefälltes Urteil, nach dem das Recht auf saubere Luft einklagbar ist.

Mangelnder politischer Rückhalt aus den Mitgliedstaaten

Sascha Müller-Kraenner ist Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe e.V. und der Meinung, dass es in der europäischen Klima- und Umweltpolitik nicht an Kompetenzen der EU fehle, sondern sich politische Antriebslosigkeit durch den mangelnden Rückhalt der EU-Mitgliedstaaten erklären ließe. „Die Mehrzahl der Mitgliedstaaten macht innerhalb der europäischen Strukturen Lobbyarbeit für ihre einheimischen Industrien (…) anstatt sich für hohe klimapolitische Standards einzusetzen“, kritisiert er und verweist dabei auf die Bundesregierung, die sich für die deutsche Autoindustrie stark mache.

Klaus Röhrig, EU-Koordinator für Klima- und Energiepolitik beim Climate Action Network Europe (CAN), ist ähnlicher Meinung: „Europa hat derzeit mit mehreren Krisen gleichzeitig zu kämpfen und es ist wichtiger denn je, dass die Europäische Union geeint und beherzt Lösungen sowohl für die Covid19 Pandemie als auch für die ökonomische und ökologische Krise erarbeitet“, sagt er. Weil die kollektiven Ziele, die der Einhaltung des Pariser Abkommens dienen, auf EU-Ebene getroffen werden, sind nach Röhrig besonders die nächsten zehn Jahre entscheidend für den Erfolg oder Misserfolg der gesetzten Ziele. Gleichzeitig fordert CAN eine Erhöhung der Treibhausgasreduktion von 65% bis 2030, um den globalen Temperaturanstieg auf 1,5°C zu begrenzen.

Was bedeutet die Klimapolitik für die europäische Integration?

Da die EU nach dem Subsidiaritätsprinzip arbeitet, sind in erster Linie die Mitgliedstaaten für die Implementierung von z.B. Umweltstandards verantwortlich. Findet hier ein Verstoß statt, kann es eine ganze Weile dauern, bis ein Gerichtsurteil vorliegt, das die Umsetzung in den Ländern endgültig durchsetzt. Das Problem dabei ist, dass in der Zwischenzeit irreparable Schäden der Umwelt stattgefunden haben können, z.B. die Anreicherung von Treibhausgasen in der Atmosphäre.

Trotzdem schätzt Müller-Kraenner von DUH das Potenzial einer Europäischen Klima- und Umweltpolitik als „Integrationsprojekt par Excellence“ ein: Die Zustimmung zu einer gemeinsamen Klima- und Umweltpolitik sei in der Mehrheit der Mitgliedstaaten schon seit vielen Jahren groß. Auch Röhrig erklärt, dass eine schnelle Transformation hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft unter anderem Ressourcenverschwendung und Luft- und Umweltverschmutzung deutlich verringern könne und so das Potenzial hat, die EU über klimapolitische Ziele zu vereinen.

Das 55%-Ziel der Kommission

Bisher scheiterte die internationale Abstimmung im Europäischen Rat jedoch häufig an dem Veto einzelner Regierungschefs, die nationale Interessen durch strengere Klimaziele bedroht sehen. Um Gesetze zu verabschieden und damit rechtsbindend für die Mitgliedstaaten zu machen, müssen sie außerdem vom Rat der EU bearbeitet werden und dessen Zustimmung bekommen. Dieser setzt sich aus den jeweiligen Fachminister*innen der Länder zusammen, im „Rat der Umwelt“ (ENVI) finden sich also alle Umweltminister*innen aus den verschiedenen Ländern wieder. Je nach Art der Abstimmung, können einzelne Minister*innen Entscheidungen im Rat blockieren, indem sie ihre Zustimmung zu Gesetzentwürfen verweigern.

Aber auch im Europäischen Rat, in dem die Staats- und Regierungschef*innen zusammentreffen und politische Leitlinien festlegen, haben Vetos große Auswirkungen. Am 11. Dezember findet der nächste Euro-Gipfel statt, bei dem auch über das neue Ziel der Kommission, die Emissionen bis 2030 um 55% zu reduzieren, abgestimmt wird. Die Klimaziele 2030 müssen mit Einstimmigkeit angenommen werden. Doch Polen stellt sich quer, unter anderem weil dem Kohleland (mit einem Anteil an Kohlestrom von 80%) in Sachen Energiewende mehr abverlangt wird als anderen Ländern. Bundeskanzlerin Angela Merkel wird hingegen dafür kritisiert, diese Entscheidung überhaupt in den Europäischen Rat verlagert zu haben. Der Deutschlandfunk zitiert außerdem die europapolitische Sprecherin der Grünen, die der Bundesregierung vorwirft, skeptischen Ländern absichtlich größere Vetomacht einzuräumen. Eine Taktik, um das deutsche nationale Klimaziel vor dem von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen deutlich ambitionierterem und groß angekündigten 55%-Ziel zu bewahren? Sollte eine Einigung im Rat nicht zustande kommen, würden auch die nationalen Klimagesetze keine Anpassungen erfordern. Im internationalen Wettbewerb haben jedoch auch andere Länder wie China und Japan längst ambitionierte Klimaneutralitätsziele vorgelegt. Erst die nächsten Jahre werden zeigen, wie die politischen Reaktionen der Weltgemeinschaft sich auf die Klimakrise auswirken. Bis dahin ist zumindest sagbar, dass Klima- und Umweltpolitik eine feste Größe europäischer Politik ist.

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