„Effet Utile“ lautet das Zauberwort, das in der Rechtsprechung des EuGH immer wieder zum Tragen kommt: Die Verträge der Europäischen Union sind nur dann zielführend, wenn sie nationales Recht (auch nationales Verfassungsrecht) überlagern. Schließlich ist die EU ein eigenständiges Völkerrechtssubjekt. Die Funktionsfähigkeit der EU wäre nicht gewahrt, wenn 27 nationale Verfassungsgerichte jeweils eine eigene Rechtsprechung zum Unionsrecht entwickelten. Daher müsste auch der EuGH sein das letzte Wort in europarechtlichen Fragen haben.
Anders sieht es das deutsche Bundesverfassungsgericht. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar mit seinem Solange-II-Beschluss von 1986 den unionsrechtlichen Gedanken der praktischen Wirksamkeit grundsätzlich anerkannt: Im Artikel 23 des Grundgesetzes tritt der deutsche Gesetzgeber Staatsgewalt, zu der auch die rechtssprechende Gewalt zählt, ab. Dem Unionsrecht kommt daher ein Anwendungsvorrang vor nationalem Recht zu und das BVerfG darf grundsätzlich keine Gerichtsbarkeit über europarechtliche Fragen ausüben.
Das BVerfG betonte aber immer wieder, dass das europäische Primärrecht ein völkerrechtlicher Vertrag ist, der von den Vertragsparteien, also den Mitgliedstaaten der EU, ratifiziert und in nationales Recht gegossen worden ist. Das Europarecht steht demnach nicht per se über nationalem Verfassungsrecht: Die Europäische Union hat keine Kompetenz-Kompetenz und kann daher nur insoweit handeln, wie sie von den Mitgliedstaaten ermächtigt wurde. Wenn EU-Organe außerhalb ihrer in den Verträgen normierten Kompetenz handeln, nimmt sich das Bundesverfassungsgericht daher in Einzelfällen heraus, dies unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten zu überprüfen. Jurist*innen sprechen in einem solchen Fall von der ultra-vires-Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts.
Geldpolitisches Mandat der EZB
Der bayerische CSU-Politiker Peter Gauweiler erhob nun gemeinsam mit dem AfD-Gründer Bernd Lucke und anderen Euroskeptiker*innen Verfassungsbeschwerde beim BVerfG. Gegenstand der Beschwerde war das Public Sector Purchase Programme (PSPP) der europäischen Zentralbank (EZB), ein 2015 beschlossenes umfassendes Programm des Europäischen System der Zentralbanken (ESZB) zum Erwerb von Staatsanleihen sowie anderer Wertpapiere von öffentlich-rechtlichen Emittent*innen im Eurowährungsraum. Das PSPP ist damit eine Methode, mit der die EZB gemeinsam mit den nationalen Notenbanken den Mitgliedstaaten Geld leiht und so die Märkte im Euroraum mit Liquidität versorgt. Ziel des Vorgangs ist, die europäische Inflationsrate nahe (aber unter) zwei Prozent zu bringen. Kurzum: Die Preisstabilität in der Eurozone soll gewährleistet werden.
Die Beschwerdeführer*innen sehen in dem Programm jedoch einen Verstoß gegen primäres EU-Recht: Die EZB betreibe faktische Fiskalpolitik, die aber eigentlich Sache der nationalen Parlamente sei. Sie habe daher ihr vertragliches Mandat überschritten („ultra vires“) und verstoße darüber hinaus gegen das europarechtliche Verbot monetärer Staatsfinanzierung. Letzter Vorwurf unterliegt laut deutscher Rechtsprechung ebenfalls dem Prüfvorbehalt des Bundesverfassungsgerichts, weil die haushaltspolitische Eigenverantwortung laut letzterem beim deutschen Bundestag liege und daher das Demokratieprinzip sowie die Identität des deutschen Grundgesetzes betroffen sei.
Bundesverfassungsgericht: keine nachvollziehbare Verhältnismäßigkeitsprüfung durch Europäischen Gerichtshof
Das Bundesverfassungsgericht hatte das Verfahren zunächst ausgesetzt und die Sache im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens dem EuGH zur Entscheidung vorgelegt. Dieser urteilte am 11. Dezember 2018, dass das PSPP-Programm weder das vertragliche Mandat der EZB überschreite noch gegen das Verbot monetärer Staatsfinanzierung verstoße. Wenig beeindruckt davon entschied das BVerfG am 5. Mai 2020 jedoch gegen das EuGH-Urteil und stellte fest, dass PSPP sehr wohl mangels einer durch die EZB begründeten Verhältnismäßigkeitsprüfung das geldpolitisches Mandat der EZB überschreite. Ein Verstoß gegen das Verbot monetärer Staatsfinanzierung lehnte das BverfG indessen ebenfalls ab. Das EuGH-Urteil sei für das BverfG im Übrigen nicht verbindlich, urteilte letzterer weiter, da auch der EuGH seine vertraglichen Kompetenzen überschritten habe. Die von ihm vorgenommene Verhältnismäßigkeitsprüfung sei ebenfalls nicht nachvollziehbar gewesen.
Die EZB hat nun drei Monate Zeit, um dem BVerfG eine zuverlässige Begründung dafür zu liefern, warum PSPP verhältnismäßig sein soll. Ob die EZB dieser Aufforderung nachkommen wird, ist fraglich, da sie die Zuständigkeit des BverfG in der Sache nicht anerkannt. Kommt sie ihr nicht nach, darf die Bundesbank an der Durchführung von PSPP jedoch nicht länger mitwirken. Das würde zu einer uneinheitlichen Geldpolitik in der Eurozone sowie zu verhältnismäßig weniger Inflation in Deutschland führen. Letzteres dürfte die hohen innereuropäischen Handelsbilanzüberschüsse Deutschlands und das damit einhergehende strukturbedingte ökonomische Ungleichgewicht im Euroraum nochmals verstärken.
Währenddessen reiben sich viele Jurist*innen über das BverfG-Urteil verwundert die Augen. Sie führen an, dass das EuGH-Urteil nicht willkürlich, sondern nachvollziehbar gewesen sei und die EZB auch nicht vertragswidrig gehandelt habe. In der Politik sind die Meinungen zu dem Urteil geteilt: Friedrich Merz (CDU) etwa bejubelte das Urteil als Sieg der deutschen Sparer*innen. Die Kommission wiederum zeigte sich empört und prüft nun ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland. Auch der französische Finanzminister Bruno Le Maire zeigte sich über die angemaßte Zuständigkeit des Bundesverfassungsgericht besorgt und rügte, dass sowohl die Unabhängigkeit der EZB als auch die Autorität des EuGH nun in Gefahr seien. Polen und Ungarn jedenfalls, die sich vom EuGH in Sachen Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte häufig bevormundet fühlen, dürften sich über den vom Bundesverfassungsgericht gesetzten Präzedenzfall sehr freuen.
Kommentare verfolgen: |