„Wir sind eine der wichtigsten, wenn nicht sogar die wichtigste, normative Macht auf der Welt“. Der damalige EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso macht 2007 diese recht selbstüberzeugte Aussage in einem Interview mit dem Politikwissenschaftler John Peterson. Schon seit den 1990ern wird die Europäische Union (EU) in den Internationalen Beziehungen, einer Teildisziplin der Politikwissenschaft, als sogenannte „normative power“ angesehen. Als normative Macht zu agieren, bedeutet in den internationalen Beziehungen, die eigenen Vorstellungen von dem was als Staat gut und richtig ist – etwa Kapitalismus, Freiheit oder Grundrechte – nach außen zu tragen. Für Staaten, oder im Falle der EU einem Staatenverbund, ist es bedeutend, eine „normative Macht“ zu sein, um politische Entscheidungen, diplomatische Verträge sowie Militäreinsätze rechtfertigen zu können.
Als Verbund vieler der reichsten und liberalsten Staaten der Welt sind es zumeist die Menschenrechte, für welche die EU auf internationaler Bühne eintritt. Und zumindest die EU selber sieht sich dabei auch als sehr erfolgreich an. Das zeigt sich unter anderem im Aktionsplan für Menschenrechte und Demokratie 2020-2024, welcher die europäischen Ambitionen und Prioritäten in diesem Bereich der Außenbeziehungen für die nächsten fünf Jahre festlegt. Die EU möchte so „zu einem stärkeren Europa in der Welt beitragen.“ Doch die geopolitischen Veränderungen seit dem Ende des Kalten Krieges drängen die Frage auf: Kann die EU noch mahnen?
Liberale Demokratie unter Feuer?
Die normative Macht Europas entstammt dem Idealismus des europäischen Projektes und der Idee einen Staatenbund zu gründen, welcher sich nach Jahrhunderten des Krieges zusammenschließt, um sich als demokratische Einheit gegenüber geopolitischen Kontrahenten behaupten zu können. Jedoch gerät das, woraus die EU ihre Stellung als „normative Macht“ bezieht, immer mehr ins Kreuzfeuer. Von Innen und von Außen werden diese grundlegenden Werte der liberalen Demokratie in Frage gestellt. Ungarn und Polen verteidigen ihr selbsternanntes Projekt der „illiberalen“ Demokratie, welches 2019 dazu führte, dass das EU-Mitglied Ungarn im Demokratieindex der Nichtregierungsorganisation Freedom House als nur noch „teilweise frei“ eingestuft wird. Durch die Covid-19-Pandemie gerieren sich autoritäre Machthaber wie Xi Jinping, Jair Bolsonaro oder Wladimir Putin als effektive Problemlöser – und präsentieren damit Autokratie als eine Alternative zur vermeintlich ineffektiven westlichen Demokratie. Tatsächlich zeigen die Daten des Center for Systems Science and Engineering der Johns Hopkins University, dass es „keinen großen Unterschied zwischen dem Erfolg der freien und der unfreien Länder im Kampf gegen Covid-19“ gibt.
Doch schon vor der Pandemie zeigten sich die Probleme. Das Spiel „Internationale Diplomatie“ entwickelt sich weiter und die neuen Figuren sind mittlerweile immer öfter hilflose Menschen. Ökonomisch schwächere Staaten spielen ihr Gambit mit Geflüchteten an den Außengrenzen und die EU weiß sich nicht zu helfen. Schwere Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen und Konzessionen an Autokraten sind die Konsequenz.
Im Jahr 2015 droht der türkische Präsident Erdoğan damit, den Geflüchteten aus Syrien die Weiterreise in die EU zu ermöglichen, um ein Hilfspaket in Höhe von 6 Milliarden Euro, eine Verpflichtung zur Visaliberalisierung und das Versprechen, die Gespräche über den EU-Beitritt wieder aufzunehmen, zu erhalten. Im vergangenen Jahr ließ sich eine ähnliche Situation an der polnisch-belarussischen Grenze beobachten. Der Diktator Lukaschenka ließ syrische und irakische Geflüchtete nach Belarus einfliegen, um diese dann gen Polen zu schicken. Mit diesem sadistischen Manöver versuchte er, eine Milderung der infolge der kürzlichen Proteste gegen ihn verstärkten Sanktionen der EU zu erzwingen. Dass sich EU-Staaten 2015 bereit erklärten, die Geflüchteten aufzunehmen, wurde ihr damals hoch angerechnet. 2021 hingegen blieben die Außengrenzen mit Brutalität dicht. Hierdurch wird auch das Selbstbild der EU als Verfechterin der Menschenrechte getrübt. Pushbacks und Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen durch Frontex diskreditieren die normativen Ansprüche EU enorm.
In Anbetracht dieser vielen Widersprüche stellt sich die Frage: Ist die EU noch eine normative Macht in der Welt, wie Barroso es 2007 so selbstbewusst verkündete? Interessiert es China unter Xi Jinping, ob die EU den kulturellen Genozid an den Uigur*innen anprangert? Stört es Wladimir Putin, wenn sein Säbelrasseln an der ukrainischen Grenze von der EU gerügt wird?
Eine „europäische Einbildung“
Und weiter: Besaß die EU eigentlich jemals diese „normative Macht“ in der Welt? Jeremy Shapiro, Forschungsdirektor am European Council of Foreign Relations und ehemaliger Berater im US-Außenministerium, verneint diese Frage im Interview mit treffpunkteuropa.de. „Die EU hatte niemals diese Fähigkeit. Das ist eine Art europäische Einbildung.“ Laut Shapiro hatte die EU nie eine aktive normative Gestaltungsmacht nach außen, sondern eher eine „attraktive Macht“: ein Staatenverbund, in den man gerne investiert und in den man gerne zieht. Eine „normative Macht“ hingegen, die tatsächlich in die Welt hinaus ginge und Demokratie forciert habe, sei die EU nie gewesen, so Shapiro.
Zwar seien Menschenrechte in außenpolitischen Unterfangen der EU stets ein Debattenpunkt gewesen, jedoch immer auch abhängig von dem jeweiligen Gegenüber und den ökonomischen Interessen der EU. Es sei nicht verwunderlich, dass „die EU sehr viel stärker auf Menschenrechte achte, wenn es mit Äthiopien zu tun hat, als wenn es um China oder Saudi-Arabien geht“, beobachtet Shapiro. Auch dass die EU ganz generell eine außenpolitische Macht auf der internationalen Bühne ist, sei laut Shapiro zu bezweifeln. Er diagnostiziert der EU folgendes Problem, wenn es um ihren internationalen Einfluss geht: „Die EU ist nicht annäherungsweise so geeint wie andere geopolitische Player, etwa China, die USA oder Russland. Sie ist kein Land. Zwar ist sie geeinter als andere Staatenverbünde, aber sie bleibt immer noch ein Verbund von Staaten.“
Aus dieser zentralen Schwäche ergibt sich für Shapiro der Grund für den mangelhaften normativen Einfluss der EU in der internationalen Politik. Da die EU in ihrer Entscheidungsfindung nicht geeint sei, werde die EU nicht so ernst genommen wie andere nationalstaatliche Player. Doch dies muss keine Endstation für die EU in puncto Gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik darstellen. Shapiro attestiert der EU viel mehr, dass sie sich hierbei auf einem guten Weg zu einer geeinteren Politik befinde. „Die größten Förderer einer geopolitischen Rolle der EU in den letzten fünf Jahren waren Wladimir Putin und Donald Trump.“ Diese autoritären Staatschefs und auch der chinesische Machthaber Xi Jinping würden „täglich mehr und mehr Anreize schaffen für die EU sich zu einen, um geopolitischen Einfluss ausüben zu können.“
Hin zu einer Multipolaren Welt?
Die Bühne der internationalen Politik unterläuft in den letzten Jahren einen gewaltigen Szenenwechsel. Als vor gut 30 Jahren der Kalte Krieg mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion endete, verblieben die USA als letzte „Supermacht“. Kritiker*innen werfen den USA vor, sich mit dem Wandel von einer (scheinbar) bipolaren zu einer (scheinbar) monopolaren Weltordnung in selbstüberschätzender Manier zu einer „Weltpolizei“ aufgeschwungen zu haben. Wann immer ein Konflikt in jedweder Weltregion drohte, seien die USA als aktive Player beteiligt gewesen - so das Narrativ.
Als engste Verbündete der USA trugen die EU-Staaten diese Ordnung zumeist willig mit – auch weil die Vereinigten Staaten als Garantiegeber für europäische Sicherheit stehen. Selbst am völkerrechtswidrigen Einmarsch im Irak beteiligten sich unter anderem Spanien, Italien und Dänemark sowie das damals noch zur EU gehörende Vereinigte Königreich. Auch andere EU-Staaten, darunter Deutschland, unterstützten den „Krieg gegen den Terror“ der USA – einerseits durch die Erlaubnis Infrastruktur auf dem Staatsgebiet zu nutzen, andererseits durch diplomatische Passivität.
In den letzten Jahren haben sich die USA jedoch verstärkt von der Rolle als immerwährender Einmischer zurückgezogen, wie etwa der Rückzug aus Afghanistan sehr deutlich gemacht hat. Auch dass die USA seit Obama von den anderen NATO-Partnern fordern, sich stärker zu engagieren und mehr Gelder in Rüstungsausgaben zu investieren, zeigt, dass die USA genug davon hat, als Weltpolizei zu fungieren.
Parallel zu dem zunehmenden außenpolitischen Rückzug der USA drängen andere Akteure auf die Internationale Bühne. Allen voran droht China unter der Führung von Xi Jinping zunehmend mit enormer Aufrüstung und ständigen Provokationen im Südchinesischen Meer. Für das Projekt der Neuen Seidenstraße will die chinesische Regierung 900 Milliarden Dollar investieren und hat dafür die Asian Infrastructure Investment Bank gegründet. So weitet China auch als wirtschaftlicher Akteur global seine ökonomische Macht und politischen Einfluss aus. Doch auch die anhaltenden Drohgebärden Wladimir Putins und der Konflikt zwischen den Nuklearmächten Indien und Pakistan zeigen, dass sich weitere Länder als große Player auf einer vielleicht nun multipolaren Weltbühne sehen möchten.
Autoritäre Machthaber auf dem Vormarsch? Der russische Präsident Putin auf Staatsbesuch bei Xi Jinping in China. Foto: Wikimedia Commons / Kremlin.ru / Lizenz
Es scheint so, als hätte die EU den Startschuss verpasst. Es gibt viel aufzuholen: Technologisch sind die europäischen Länder hinter den USA, China und in vielerlei Hinsicht auch Indien zurückgefallen. Die uneinige Migrationspolitik treibt Risse in das Fundament, welche von Brexiteers und illiberalen Politiker*innen ausgenutzt werden. Die EU sollte - unter anderem in ihrem Aktionsplan für Menschenrechte und Demokratie 2020-2024 - nicht ausschließlich auf normative Macht bauen. Stattdessen sollte die Europäische Union einen geeinten Plan schaffen, der sie in Sachen Technologie, Militär, Umwelt sowie Gesundheit als gewichteter, geopolitischer Pol zu China und den USA bestehen lässt. Dies kann sie jedoch nur schaffen, wenn sich alle Mitgliedstaaten der neuen geopolitischen Realität bewusst werden und mehr Wert auf eine geeinte Außen- und Sicherheitspolitik legen. Denn auch wenn sie 2007 – zumindest nach Barroso – eine normative Macht war, so ist die Europäische Union heute gespaltener denn je.
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