treffpunkteuropa.de: Zunächst möchten wir kurz über die Ereignisse des vergangenen Jahres sprechen. Im Januar 2021 haben Sie gemeinsam mit Mark Leonard zehn außenpolitische Trends für 2021 veröffentlicht, in denen Sie vorhersagten, dass die EU ihren Kampf mit Polen und Ungarn verstärken würde. Inwieweit hat sich diese Vorhersage Ihrer Meinung nach bewahrheitet?
Shapiro: (lacht) Jetzt werden meine Vorhersagen gegen mich verwendet. Sehr grausam. Ich denke, sie hat sich größtenteils bewahrheitet. Die EU hat ihren Kampf gegen Polen und Ungarn im Bereich der Rechtsstaatlichkeit intensiviert. Es hat noch nicht viel bewirkt, aber ich erwarte, dass dieser Kampf weitergehen wird. Die EU hat mit den Coronavirus Recovery Funds ein erhebliches Druckmittel in der Hand, und sie hat dies zu einer Bedingung für Fortschritte in der Rechtsstaatlichkeits-Frage gemacht. Im Laufe des Jahres hat das polnische Verfassungsgericht ein Urteil gefällt, das besagt, dass man sich nicht an EU-Recht halten muss. Das Problem hat sich verschärft, aber ich glaube, dass auch die EU ihren Kampf verstärkt hat.
Glauben Sie, dass es mit einem Austritt dieser beiden Länder aus der EU enden wird?
Nein, ich glaube nicht, dass es auf einen Austritt aus der EU hinauslaufen wird. Weder Polen noch Ungarn wollen die EU verlassen und es gibt keine Möglichkeit, sie dazu zu zwingen. Polen und Ungarn sind froh, dass sie diesen Kampf mit der EU für immer führen können. Die EU wird vielleicht einige finanzielle Mittel zurückhalten, aber sie wird die wichtigsten Instrumente in ihrem juristischen Arsenal nie wirklich einsetzen. Und langsam aber sicher wird sich die EU daran gewöhnen, Länder in ihrer Mitte zu haben, die ihre Werte nicht ganz aufrechterhalten.
Glauben Sie, dass interne Veränderungen in der politischen Landschaft in Ungarn und Polen zu einer Lösung dieses Problems führen könnten?
Ich halte das für eine viel bessere Möglichkeit als, dass die EU diesen Kampf gewinnt. In Ungarn finden im April oder Mai Wahlen statt, bei denen die Opposition eine gewisse Chance hat, zu gewinnen. In Polen finden die Wahlen erst 2023 statt, aber auch hier ist die Zivilgesellschaft viel stärker als in Ungarn und hat sicherlich die Möglichkeit, die Wahlen zu gewinnen. Es ist natürlich ziemlich ungewiss, aber im Allgemeinen werden nur die innenpolitische Entwicklung und die Frustration über diese Regierungen eine Chance haben, diesen Streit mit der EU zu lösen. Ich glaube nicht, dass die EU diesen Kampf von außen gewinnen kann. Im Gegenteil, die EU könnte ihn von außen noch viel schlimmer machen.
Wir alle wissen, dass dieser interne Angriff auf das Modell der liberalen Demokratie die normative Kraft Europas geschädigt hat. Die hypothetische Frage, die gestellt wird, lautet: Wie kann die EU ein Leuchtturm der Demokratie sein, wenn sie nicht in der Lage ist, ihre Werte und Versprechen innerhalb der Union zu halten? Wie sehr, glauben Sie, schadet dieser Angriff auf Menschenrechte und liberale Demokratie der Fähigkeit der EU, als normative Kraft zu agieren?
Überhaupt nicht. Aber der Grund dafür ist, dass die EU nie wirklich die Fähigkeit dazu hatte. Das ist eine Art europäische Einbildung. Die Amerikaner haben diese Einbildung auch, aber sie ist nicht ganz so stark. Ich glaube nicht, dass irgendjemand in der Welt wirklich etwas wegen der normativen Macht der EU getan hat. Natürlich haben die Länder mit der EU über Themen wie Menschenrechte verhandelt und tun es immer noch, aber das hat mit der Macht der EU zu tun: Ihre Macht als Markt, ihre Macht als gelegentlicher Sicherheitsakteur und ihr Verhältnis zu den Vereinigten Staaten, nicht weil sie ein „Leuchtturm der Demokratie“ wäre. Die Tatsache, dass Europa und die europäische Zivilgesellschaft sich wirklich der Demokratie und den Menschenrechten verschrieben haben, ändert manchmal die Mechanismen, die angewendet werden, aber nicht den Grund. Es ist deswegen nicht allzu überraschend, dass die EU im Umgang mit Äthiopien sehr viel stärker auf die Menschenrechte setzt als im Umgang mit China oder Saudi-Arabien.
Glauben Sie, dass sich diese Außensicht auf Europa als nicht unbedingt „Leuchtturm der Demokratie“ in den letzten zwanzig Jahren verstärkt hat, oder glauben Sie, dass sie nie eine normative Kraft hatte?
Ich glaube nicht, dass sie in diesem Sinne eine normative Kraft hatte. Was die EU definitiv hatte und hat, ist ihre Anziehungskraft. Die Menschen schauen sich sowohl die europäische Demokratie als auch die europäische Wirtschaft an und denken: "Da will ich leben, da will ich hin, da will ich mein Geld anlegen.” Das ist sehr stark, und das erklärt die Einwanderungswellen und den Zustrom von ausländischem Geld. Ich glaube, das hat sich in den letzten 20 Jahren etwas abgeschwächt, aber ich denke, es ist immer noch da und stark.
Die Osterweiterung der Europäischen Union in den 00er Jahren war also eher eine Folge des möglichen Marktzugangs als eine normative Kraft, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein Interesse an diesen Werten geweckt hat?
Ich denke, im Großen und Ganzen ist das richtig. Natürlich gab es in diesen Ländern bestimmte Leute, die daran interessiert waren, demokratische Werte zu garantieren. Aber wenn wir zurückblicken, können wir sehen, dass das Angebot, das diese Länder annahmen, der Zugang zum europäischen Markt war: der Zugang zu der Art von Wohlstand, die damals in Westeuropa herrschte. Es ist ihnen gelungen, durch die Erweiterung Zugang zu diesem Markt zu erhalten, und je mehr sie davon haben, desto mehr lehnen sie die normativen Aspekte ab. Das ist von Land zu Land unterschiedlich, aber ich würde sagen, dass sich jedes einzelne Land in seinem eigenen normativen Ansatz wohl fühlt. Und keines von ihnen - auch nicht die baltischen Staaten - würde den westeuropäischen normativen Ansatz zu Demokratie und Menschenrechten teilen.
Es hört sich an, als seien dies die Folgen einer mangelnden Integration innerhalb der Europäischen Union. Wir sprechen oft von den „Vereinigten Staaten von Europa“, und davon, dass, am Ende des Tages, die Europäische Union ein Bundesstaat werden könnte. In den USA scheint es eine einheitliche normative Kraft zu geben, während es diese in Europa aufgrund mangelnder Integration (noch) nicht gibt?
Es ist schwer zu sagen, ob sich die EU wirklich in diese Richtung bewegen. Die EU ist hartnäckig national. S wenn man sich in Westeuropa umschaut, sieht man eine Reihe von Ländern, die eine Reihe von Werten teilen und daher keine Probleme haben, miteinander auszukommen, aber dennoch stur national sind. Sie sind aber nicht daran interessiert, sich von Brüssel vorschreiben zu lassen, was diese Werte sein sollen. Als politische Gemeinschaften definieren sich die Länder sehr stark als nationale politische Gemeinschaften, und Europa als Außenstehender. Man könnte sagen, dass Belgien oder Luxemburg Ausnahmen sind. Aber man merkt Belgien an, dass es anders ist als jedes andere Land in Europa. In diesem Sinne ist Frankreich näher an Polen als an Belgien. Und die Tatsache, dass Frankreich nicht die Konflikte hat, die Polen mit der EU hat, liegt zum Teil daran, dass die Werte mehr übereinstimmen und zum Teil daran, dass Frankreich mächtiger ist und die EU es nicht wagt, mit Frankreich in Konflikt zu geraten.
Außen- und Sicherheitspolitikexperte Jeremy Shapiro. Foto: ECFR / ECFR / Lizenz
Nach dem Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan und dem Sturz der afghanischen Regierung im August haben Sie einen Beitrag darüber verfasst, was dieser schnelle und chaotische Abzug für die europäischen Verbündeten der USA bedeutet. In Ihrer Analyse stellen Sie fest, dass es „an der Zeit ist, aufzuwachen und den post-amerikanischen Kaffee zu riechen“, denn die USA sind zu einem normalen Land geworden, was bedeutet, dass sie nur dann kooperieren, wenn ihre vitalen Interessen auf dem Spiel stehen. Welches sind Ihrer Meinung nach die vitalen Interessen, bei denen die EU und die USA jetzt und in Zukunft zusammenarbeiten könnten?
Es gibt eine ganze Reihe von Themen, bei denen die EU und die USA zusammenarbeiten können. Ich denke, dass China aus amerikanischer Sicht ein wichtiges Thema ist, bei dem die USA das Gefühl haben, dass sie die Zusammenarbeit mit Europa benötigen - zumindest was den wirtschaftlichen Kampf angeht. Und die Europäer*innen scheinen dem zuzustimmen. Es gibt auch noch eine ganze Reihe anderer Themen, bei denen die beiden Mächte zusammenarbeiten können und dies auch tun: das Klima zum Beispiel. Und bis zu einem gewissen Grad auch in Russland. Was angestrebt wird, ist meiner Meinung nach eine neue, verantwortungsvolle Gewichtung der transatlantischen Beziehungen. Die europäische Souveränitätsbewegung, wie auch immer man sie nennen will, könnte ein wichtiger Teil davon sein.
Sie haben gerade die militärischen Beziehungen angesprochen, insbesondere für Europa die Beziehung zu den USA. Ein großer Teil der militärischen Fähigkeiten der EU beruht darauf, dass sie Teil der NATO ist und im Wesentlichen von den USA geschützt wird. Nun tendieren die USA dazu, sich aus Europa zurückzuziehen. Können wir erwarten, dass die Europäische Union über eine weitere Integration und die Bereiche der Außen- und Sicherheitspolitik nachdenkt? Und wie würde sich das wiederum auf die Verbreitung von Menschenrechten oder die Propagierung von Menschenrechten durch die EU und die Stellung der EU als normativer Akteur auswirken?
Die EU bezieht ihre militärische Macht nicht nur aus der Mitgliedschaft in der NATO. Vielleicht hat die Mitgliedschaft in der NATO einen sicherheitspolitischen Vorteil, nämlich den, dass sie versucht, die Vereinigten Staaten einzubinden. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union - wie die Mitgliedstaaten der NATO - verfügen heute über eigene militärische Fähigkeiten, die bereits ziemlich umfangreich sind, aber wahrscheinlich noch umfangreicher werden müssen. Es geht also nicht darum, europäische Fähigkeiten zu schaffen. Es geht vielmehr um die Pflege der europäischen Fähigkeiten und um die Frage, wie man diese Fähigkeiten in etwas integrieren kann, das auf europäischer Ebene nutzbar ist. Nutzt die EU die NATO? Nutzt die NATO die EU? Oder nutzt man Ad-hoc-Gruppierungen? Die Europäer*innen müssen in den kommenden Jahren sowohl ihre Fähigkeiten auf nationaler Ebene als auch ihre Fähigkeiten zur Organisation und Integration dieser Fähigkeiten auf verschiedene Weise verbessern müssen: Durch die NATO, durch die EU und durch Ad-hoc-Gruppierungen. Die NATO-Option wird etwas an Bedeutung verlieren, weil ihr Hauptzweck darin besteht, die Amerikaner*innen einzubinden, und das wird immer schwieriger werden.
Glauben Sie, dass eine Verstärkung des militärischen Engagements Europas sich auf die Rolle Europas als anspruchsvolle normative Macht in der Welt auswirken würde? Würde eine Verstärkung des militärischen Engagements der EU bedeuten, dass sie an Einfluss gewinnt?
Die EU wird an Einfluss gewinnen, wenn sie ihre militärische Macht ausbauen. Wofür sie diesen Einfluss nutzen, ist eine andere Frage. Ich glaube nicht, dass sie ihn in großem Umfang für normative Zwecke nutzen werden, und ich glaube auch nicht, dass sie dabei sehr erfolgreich sein würden, wenn sie es versuchten. Aber ich denke, sie werden an Einfluss gewinnen.
Unsere letzte Frage richtet sich gen Zukunft und an ihr Wahrsager-Talent. Könnten Sie uns eine Vorhersage darüber geben, worauf wir uns in der EU konzentrieren müssen, um eine internationale Position von geopolitischer Bedeutung zu erlangen oder vielleicht sogar wiederzuerlangen?
Kurz vor diesem Anruf habe ich an unseren Vorhersagen für 2022 gearbeitet. Wenn Sie also irgendwelche Vorhersagen haben, wäre das sehr hilfreich (lacht).
Was ich jetzt sagen werde ist keine Vorhersage an sich, denn Sie fragen sozusagen: Was muss die EU tun? Ich glaube wirklich, dass eine einheitliche Entscheidungsfindung absolut zentral für die Fähigkeit der EU ist, geopolitischen Einfluss geltend zu machen. Die Hauptschwäche besteht darin, dass die EU nicht annähernd so einheitlich ist wie andere geopolitische Akteure - China, die USA oder Russland. Wenn man wollte, dass die EU geopolitische Bedeutung erlangt, müsste man sich damit auseinandersetzen. Da die Welt geopolitisch immer wettbewerbsfähiger wird, wird die EU mehr geopolitische Bedeutung erlangen wollen. In diesem Sinne waren die größten Förderer einer geopolitischen Rolle der EU in den letzten fünf Jahren Wladimir Putin, Donald Trump und die Impulse, die von diesen beiden ausgingen.
Würden Sie diese These erläutern?
All diese Leute schaffen tagtäglich mehr und mehr Anreize für die EU, sich so auszurichten, dass sie ihren geopolitischen Einfluss geltend macht: Das ist im Wesentlichen der Ursprung der Souveränitätsbewegung. Sie entspringt der wachsenden Einsicht einer Notwendigkeit und der Tatsache, dass tiefere Integration geschehen muss. Ein faszinierender Vorbote für diese Bewegung, ist die Reaktion der EU auf die Flüchtlingskrise in Belarus. Dabei verletzten sie eine Menge ihrer normativen Werte. Sie unterstützten eine polnische Regierung, die, wie ich meine, eine geopolitisch kluge, aber grausame Politik an dieser Grenze verfolgte. Die EU erwirbt die Fähigkeit, geopolitischer, effektiver und grausamer zu sein. Und das ist wahrscheinlich auch notwendig - aber traurig. Ich will nicht dafür plädieren, dass sie etwas dagegen tun, aber es ist traurig, dass die Welt so weit gekommen ist. Ich denke, das zeigt, wozu die EU fähig ist und in welche Richtung sie geht, aber es ist klar, dass sie noch einen langen Weg vor sich hat.
Vielen Dank, Jeremy, dass Sie sich die Zeit genommen haben.
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