Oana Popescu: „Die Erweiterung der EU muss ein Prozess geteilter Verantwortlichkeiten sein“

, von  Marie Jelenka Kirchner, übersetzt von Hannah Luisa Faiß

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Oana Popescu: „Die Erweiterung der EU muss ein Prozess geteilter Verantwortlichkeiten sein“
Fotoquelle: Marie Jelenka Kirchner

Oana Popescu hat auf unterschiedlichste Weisen Erfahrungen in der Europapolitik gesammelt, u.a. auch als Gründerin des Romanian Think Tank Global Focus. Dieses Jahr tritt sie für die Wahlen des Europäischen Parlaments an. Ich durfte sie treffen, um mit ihr über die EU-Erweiterungsstrategie für den Westbalkan und die Lehren, die aus der Aufnahme Rumäniens in die EU gezogen wurden, zu sprechen.

Marie Jelenka Kirchner (MK): Im Jahr 2018 präsentierte die EU den Ländern des Westbalkans eine vielversprechende Perspektive der Aufnahme in den Staatenverbund. Wie glaubwürdig ist diese Perspektive wirklich?

Oana Popescu (OP): Ich glaube, dass wir leider sehr viel Glaubwürdigkeit verloren haben, was teilweise der Wahrnehmung von Unbeständigkeit seitens der Europäischen Union geschuldet ist. Es werden sehr viel öfter Schritte vorwärts unternommen, die nicht in Verbindung mit Reformfortschritten stehen, sondern sich nach politischen Umständen richten, als andersherum. Außerdem herrscht die Wahrnehmung, dass die EU den ganzen Prozess als top-down und recht paternalistisch sowie als von Eliten vorangetrieben Bewegung versteht.

MK: Welche sind aktuell die drei größten Herausforderungen bezogen auf die Erweiterung der Europäischen Union?

OP: Von EU-Seite wäre es wichtig, einen Aufnahmeprozess zu gestalten, an dem die Fortschritte der Länder wirklich genau gemessen werden können. Zweitens, dass die EU auch intern nach ihren eigenen Regeln und Prinzipien verfährt und drittens, dass die EU nicht nur mit Eliten zusammenarbeitet, sondern vor allem auch mit der Zivilgesellschaft. Es ist wichtig zu verstehen, dass es sich auch um einen Europäisierungs- und Modernisierungsprozess handelt und nicht nur um einen Integrationsprozess. Erweiterung bedeutet nicht nur die Übernahme des Besitzstands der EU, sondern in erster Linie die Transformation von Gesellschaft, von Politik, von Wirtschaft.

MK: Und welche sind die größten Herausforderungen auf Seite der Länder?

OP: Sie müssen es wirklich glaubhaft machen, dass sie die EU-Integration aufrichtig wollen und nicht nur Vorteile einkassieren möchten. Dies muss ein Prozess von geteilten Verantwortlichkeiten auf beiden Seiten sein. Ich denke, dass der Westbalkan leider eine Mentalität der Art „gut, wenn uns nicht gefällt, was die EU tut, werden wir Reformen einfach vortäuschen und versuchen, mit dem Maximum an Vorteilen bei einem Minimum von tatsächlich vollzogenen Reformen wegzukommen“ entwickelt hat. Die Scheinheiligkeit muss auf beiden Seiten aufhören.

MK: Hat die EU-Erweiterung letztendlich überhaupt eine überzeugende Zukunft?

OP: Ich denke nicht, dass der Prozess so viel Glaubwürdigkeit verloren hätte, als dass er keine Zukunft mehr hätte. Eher im Gegenteil und ich glaube, dass sowohl die EU als auch der Westbalkan zu realisieren beginnen, dass beide Seiten nicht perfekt sind – die EU hat ihre eigene Krise und die westlichen Balkanstaaten haben ihre eigenen Krisen. Aber wenn wir weiterhin auf das große Ziel blicken und zeigen, dass wir es zusammen schaffen wollen, dann werden wir auch dazu fähig sein.

MK: Sie sind aus Rumänien, welches im westlichen Europa sehr oft dafür kritisiert wird, nicht das “ideale neue” Mitglied in der EU zu sein. Gibt es etwas, aus dieser besonderen Perspektive heraus, was als Lehre für zukünftige Erweiterungen gezogen werden könnte?

OP: Absolut, und ich denke, dass von der Integration aller ehemaligen Ostblockstaaten viel gelernt werden kann, nicht nur aus dem Fall Rumäniens. Wir müssen sicherstellen, dass der Prozess inklusiv ist und die ganze Gesellschaft mit an Bord ist. Wir haben riesige Ungleichheiten in Rumänien und in allen anderen mittel- und osteuropäischen Ländern. Im Grunde spürt nur ein Teil der Bevölkerung die Vorteile der EU-Integration und integriert sich de facto. Die andere Hälfte sieht, dass um sie herum ein Prozess stattfindet, aber diese Veränderung erreicht sie nicht und führt auch nicht zu besseren Lebensstandards. Natürlich sorgt das für Frustration und geht tendenziell nach Hinten los.

MK: Wie könnte der Prozess inklusiver sein?

OP: Wir brauchen eine inklusive Debatte vor der Eingliederung. In Rumänien hatten wir eine beinahe einstimmige Unterstützung für den NATO- und EU-Beitritt, was bedeutet, dass wir nie eine Debatte darüber geführt haben, was das bedeutet und wieso wir es tun. Die allgemeine Gefühlslage war derart, dass die Politik die Unterstützung der Bevölkerung hatte und sich daher gefragt hat, warum man sich noch länger mit Diskussionen rumschlagen sollte? Und jetzt bemerken wir, dass wir nie wirklich mit den Menschen gesprochen haben, um z.B. den Konflikt zwischen traditionellen rumänischen und den modernen, liberalen Werten der EU zu erklären. Wir haben sie nie wirklich offen diskutiert und mit den Menschen gesprochen, die diese Veränderungen hart finden.

MK: Woher kommt die Feindseligkeit gegenüber Veränderung?

OP: Vielleicht macht Veränderung vielen Menschen einfach Angst. Was wir durchmachten, und was auch der Westbalkan durchmacht, sind eine Menge Veränderungen über einen kurzen Zeitraum. Das ist immer mit viel Stress verbunden. Wir haben verschiedene Arten von Menschen gesehen, die ein Gefühl von Verlust verspüren. Das ist nicht immer greifbar: Es geht um Identität, Sicherheit und Geborgenheit. Da gibt es unter Einigen das Gefühl, dass wir im Prinzip unser Land an ausländische Mächte verkauft haben.

Also was sind die Lehren für den Westbalkan?

OP: Wir haben gelernt, dass Erweiterung ein sehr komplexer Prozess ist, der nicht nur auf dem Papier passiert und nicht nur institutionell vonstattengeht. Er verläuft nie linear und die Transformation der Gesellschaft ist nichts, was von einem Moment A auf den Moment B passiert. Es wird ein sehr langer Prozess sein, dessen Errungenschaften nicht immer offensichtlich oder spektakulär sind, aber es geht darum eine klare Entscheidung zu treffen: Ob man lieber diesen langen und vielleicht schwierigen Weg zu Wohlstand und Demokratie gehen will oder ob man zufrieden mit dem jetzigen Zustand ist – oder welche andere Option gibt es hier?

MK: Als Teil der jungen rumänischen Parte +PLUS kandidieren Sie 2019 für das Europäische Parlament. Wie kam es zu dieser Entscheidung?

OP: Ich denke, dass diejenigen von uns, die immer noch an die Europäische Idee glauben und Idealismus mitbringen, trotz aller wahrgenommenen Makel, die EU reformieren müssen. Wir müssen wirklich anfangen laut zu werden: Es muss aktive Werbung geben und die sogenannten Eliten und die von uns, die Zugang zu Bildung im Ausland und zu Reisen haben, müssen den anderen Menschen, die vielleicht keine direkten Erfahrungen mit der Thematik haben, erklären, warum es wichtig für sie sein könnte.

Das neue Jahr ist noch jung, es ist noch nicht zu spät für Neujahrsvorsätze. Was ist Ihr 2019-EU-Vorsatz, was würden Sie gerne dieses Jahr erreichen?

OP: Die Nummer eins aller Dinge wäre, dass ich gerne sicherstellen möchte, dass ich eine der Anwält*innen der Europäischen Idee bin. Und das Zweite, dass ich einfach an der Entstehung neuer politischer Parteien interessiert bin und das gerne unterstützen möchte. Wir sind heute wirklich in einer Zeit angekommen, in der nicht mehr länger schlicht rechts gegen links gilt. Stattdessen ist das Zeitalter eher etwas post-ideologisch. Jetzt stehen alte Politikpraktiken des 20. Jahrhunderts gegen neue Arten von Politik des 21. Jahrhunderts. Ich bin daran interessiert, diese neuen Parteien in ihrem Wachsen zu unterstützen. Ich bin davon überzeugt, dass bedeutungsvolle Aktionen politisch sein müssen, um wirkliche Auswirkungen zur Folge zu haben.

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