Österreichische Ratspräsidentschaft: Für „ein Europa, das schützt“ – vor Migration…

, von  Estelle Beuve, übersetzt von Etienne Höra

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Österreichische Ratspräsidentschaft: Für „ein Europa, das schützt“ – vor Migration…

Nach Viktor Orban und Matteo Salvini reiht sich Sebastian Kurz mehr und mehr in einen Kreis einwanderungsfeindlicher europäischer Politiker ein. Das Gewicht seiner Ansichten wird dadurch noch verstärkt, dass Österreich am 1. Juli den Vorsitz des EU-Rats übernommen hat.

Der 1. Juli ist jedes Jahr ein Wendepunkt für die Union, zumindest auf symbolischer Ebene. Die österreichische Präsidentschaft folgt diesmal auf die bulgarische. Was ist während der sechs Monate passiert, in denen Bulgarien mit seinem Ministerpräsidenten Boiko Borissow den EU-Rat unter dem Motto eines „solidarischen“ Europas geführt hat?

Bulgarische Ratspräsidentschaft – die Reform der Istanbul-Konvention in der Schwebe

In dieser Zeit wurden nicht weniger als 1500 Treffen und Veranstaltungen organisiert. Während manche Projekte entscheidende Fortschritte verzeichnen konnten, wie etwa das zur Steigerung der Energieeffizienz oder das zur Partnerschaft zwischen der Union und den Ländern des Westbalkans – man denke an den Gipfel, der am 17. Mai in Sofia stattgefunden hat -, wurde ein anderes vernachlässigt: die Istanbul-Konvention, das „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“.

Malin Björk, eine linke Europaabgeordnete (GUE), die die Debatte über diese Konvention des Europarats im Parlament angestoßen hat, ordnet den Boykott Bulgariens der Parlamentsdebatten zu diesem Thema als „einen grausamen, sexistischen und homophoben Angriff gegen Frauen und die LGBT-Community“ ein. Die Konvention wurde von Frankreich im Jahr 2014 ratifiziert, von Deutschland im Jahr 2017, und zuletzt von Kroatien und Griechenland im Juni 2018. Sie hat zum Ziel, Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen, aber Bulgarien, ebenso wie die Slowakei, sieht darin eine Strategie, um ein „drittes Geschlecht“ oder die Ehe für Homosexuelle in ein Land einzuschleusen, das einem traditionellen Familienbild folgt.

Selbstverständlich räumt Borissow seinen Platz auch mit einem weinenden Auge. Die Bilanz seiner Ratspräsidentschaft ist gemischt: während er ein solidarischeres Europa versprochen hat, zeigen die Ereignisse der letzten Wochen im Mittelmeer das Gegenteil.

Sebastian Kurz – Politiker in Österreich, bald in Europa

Die Reihenfolge der Länder, die die Ratspräsidentschaft übernehmen, wird vom Ministerrat selbst festgelegt. Während Borissow seine Rückkehr nach Sofia organisiert, richtet sich Kurz in seiner neuen Position ein, unter dem Motto „Ein Europa, das schützt“. Wovor? Vielleicht vor Migration. Der junge österreichische Bundeskanzler hat es durch einen migrationskritischen Wahlkampf geschafft, sich in der österreichischen Politik und bei den Parlamentswahlen im Oktober 2017 durchzusetzen.

Es ist kaum ein Jahr her, da war er noch ein zweitrangiges Mitglied der Koalitionsregierung mit der sozialdemokratischen SPÖ, zuständig für auswärtige Angelegenheiten. Heute ist er nicht nur innenpolitisch gestärkt, in seiner Koalition mit der rechtsextremen FPÖ, sondern bewegt sich auch auf der europäischen Bühne. Für seine Ratspräsidentschaft fehlt es ihm weder an Kreativität noch an Ambitionen. Kurz hat nicht gezögert, und wird es auch nicht, Angela Merkel in Schwierigkeiten zu bringen. Er kritisiert sie für ihre in seinen Augen zu freizügige Migrationspolitik, während ihre Regierung durch den Asylstreit innerhalb der Koalition ohnehin destabilisiert ist.

Hafteinrichtungen für Migranten in Europa

Die Ereignisse haben in den letzten Wochen ihren Lauf genommen: angefangen mit der „Aquarius“, der keine Anlegeerlaubnis in Italien erteilt wurde und die das Mittelmeer durchqueren musste, um letztendlich in Spanien zu landen, der „Mini-Gipfel“ zur Migration in Vorbereitung auf die Ratssitzung am 28. und 29. Juni, und schließlich die Ergebnisse dieses Treffens, die die Schaffung von Ankunftszentren vorschlagen. Verschiedene europäische Länder, so etwa Frankreich und Österreich, lehnen es aber ab, solche Zentren auf ihrem Staatsgebiet einzurichten. Die französische NGO „Cimade“ kritisiert deshalb in einem Report „ein Europa, das sich abschottet“. Vor dem Hintergrund der Krise der europäischen Migrationspolitik lässt alles darauf schließen, dass Wien diese zur Priorität machen wird. Die Koalitionsregierung von Sebastian Kurz möchte Hafteinrichtungen schaffen, um Wirtschaftsflüchtlingen den Zugang zur EU zu versperren. Dieser beunruhigende Vorschlag macht seitdem in Europa die Runde.

Am 5. Juni hat sich Kurz mit dem liberalen dänischen Premierminister Lars Lokke Rasmussen getroffen. Ziel des Treffens war eine gemeinsame Reflexion über eine mögliche Alternative zu der politischen Sackgasse in der Migrationsfrage, in der Europa steckt, sowohl durch die Dublin-Verordnung, das den Ankunftsländern die Verantwortung für Flüchtlinge überträgt, als auch durch die Verteilungsquoten nach Einwohnerzahl und BIP der Mitgliedstaaten. Dieses bilaterale Vorgehen stellt ein Grundprinzip der Union in Frage, den Multilateralismus. Aus dem Gespräch ging insbesondere eine gemeinsame Idee hervor: die Schaffung von europäischen Empfangs- und Abschiebezentren. Dieser Vorschlag gibt zu denken. Er entfernt sich deutlich von den Werten der Europäischen Union, die im Artikel 2 des Lissabon-Vertrages festgelegt sind.

Am nächsten Tag stellte Kurz in Brüssel ein 66-seitiges Dokument über die Prioritäten der österreichischen Ratspräsidentschaft vor. Dabei sorgte insbesondere ein Punkt für Klärungsbedarf: die Einrichtung von geschlossenen Flüchtlingslagern auf dem Gebiet der Beitrittskandidaten zur Union (Albanien und Kosovo), die einen solchen Vorschlag kaum ablehnen könnten, wäre er doch mit einer beschleunigten Aufnahmeprozedur verbunden. Der österreichische Bundeskanzler hat gegenüber Jean-Claude Juncker erklärt, dass es sich um den Vorschlag eines „kleinen Kreises europäischer Länder“ handele, der am Rande des EU-Westbalkan-Gipfels in Sofia entworfen wurde.

Dabei handelt es sich jedoch nicht um Kurz‘ oberste Priorität für das nächste halbe Jahr. Es geht nämlich um nichts weniger als eine grundlegende Reform der Asylpolitik in Europa. Dabei ist es wichtig, eines im Blick zu behalten: Das Problem liegt weniger in der Zahl der Flüchtlinge in Europa als im offensichtlichen Mangel an politischer Einigkeit in der EU. Eine tiefgreifende Reform der Dublin-Verordnung ist nötig, ebenso wie die Abschaffung des ineffizienten Quotensystems zur Verteilung. Seit dem fragwürdigen Flüchtlingsabkommen mit der Türkei 2016 ist Europa in eine Art Schockstarre verfallen; eine Schande für alle europäischen Staaten. Wird Europa es während der österreichischen Ratspräsidentschaft endlich schaffen, diese Vogel-Strauß-Politik zu beenden?

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