Polen: Frühjahrsputz in Gerichten, Ämtern und Medien

, von  Arthur Molt

Polen: Frühjahrsputz in Gerichten, Ämtern und Medien
Die erst 2015 gegründete Partei Nowoczesna führt den Protest gegen die Verfassungsreform in Polen an. Die liberale Partei steht für eine europäische Integration des Landes ein. ©Nowoczesna Facebook/ Public Domain Dedication

Der Umbau des Rechtsstaates in Polen kostet Beteiligte und Beobachter schlaflose Nächte. Gesetze werden im Eilverfahren verabschiedet. Entscheidungen über die Handlungsfähigkeit des Verfassungsgerichts werden an Heiligabend gefällt. Ein neues Mediengesetz trat nach den Feiertagen in Kraft. Erste Rundfunkanstalten stehen bereits unter neuer Leitung. Ein Überblick über einen rasanten Jahreswechsel von Arthur Molt.

„Liebe Mitbürger, gönnen wir uns einen Moment des Nachdenkens“, so begann Polens Staatspräsident Andrzej Duda seine Neujahrsansprache. Besonders besinnlich ging es jedoch während der Feiertage in Polen nicht zu. Bis drei Uhr nachts saß der Senat, die zweite Kammer des polnischen Parlaments am Vorabend vor Weihnachten zusammen, um über eine Reform des Verfassungsgerichts zu entscheiden. Das umstrittene Gesetz sieht vor, dass alle Entscheidungen, statt wie bisher mit einfacher Mehrheit, mit einer Dreiviertelmehrheit und unter Beteiligung von mindestens 13 Richtern gefällt werden. Bisher wurden Plenumsentscheidungen von neun, weniger schwerwiegende Entscheidungen von einem kleineren Gremium getroffen. Der Präsident des Verfassungsgerichtes, Andrzej Rzepliński befürchtet durch die Änderungen eine Lähmung des höchsten Gerichtes. Bereits jetzt warten laut offiziellen Angaben des Verfassungsgerichts 174 Fälle aus den Vorjahren auf inhaltliche Beurteilung. Die neue Sorgfalt, die die Regierungspartei dem Verfassungsgericht verschreiben will, steht in starkem Kontrast zur Geschwindigkeit, mit der derzeit Gesetzesvorlagen der neuen Regierung durch das Parlament abgesegnet werden. Vom Entwurf bis zum Inkrafttreten verstreicht oft nur eine Woche. Im Fall der Neubesetzung von Richterposten hatte das Verfassungsgericht bereits im Dezember angemahnt, dass diese nicht wie vorgesehen erst in Dritter Lesung verabschiedet wurden. Die Unterschrift von Staatspräsident Duda folgte bei den Gesetzespaketen ohne Verzögerung, teilweise noch in der Nacht nach dem Parlamentsbeschluss. Die Neuregelung über die Zweidrittelmehrheit im Verfassungsgericht unterzeichnete Andrzej Duda direkt nach den Weihnachtsfeiertagen. Abgeordnete der Bürgerplattform und der Vorsitzende des höchsten Gerichtshofs, der zweithöchsten richterlichen Instanz in Polen haben Verfassungsklage erhoben. Eine Entscheidung steht noch aus.

Polnische Juristen kritisieren Umgang mit dem Verfassungsgericht

Jan Zimmermann, Professor an der Jagiellonen Universität Krakau und Doktorvater Andrzej Dudas distanzierte sich bereits Anfang Dezember in einem Gespräch mit der Gazeta Prawna deutlich vom amtierenden Präsidenten: „Ich bedaure, dass er Absolvent unserer Fakultät ist. Er schrieb bei mir seine Doktorarbeit, ich kenne ihn seit 20 Jahren und er ist ein guter Jurist, aber ein guter Jurist sollte wissen, was ein demokratischer Rechtsstaat ist, was ein Verfassungsgericht ist und was eine Verfassung ist.“ Nach Meinung von Professor Zimmermann hat der polnische Präsident bis dato drei Mal die Verfassung verletzt. Im ersten Fall, als er den früheren Chef der Anti-Korruptionsabteilung, Mariusz Kamiński begnadigte, obwohl dessen Strafverfahren noch gar nicht abgeschlossen war. Mariusz Kamiński wurde aufgrund einer inszenierten Korruptionsaffäre angeklagt, im neuen Kabinett wurde er zum Chef der Geheimdienste ernannt. Im zweiten Fall, als Andrzej Duda im Herbst die Vereidigung von drei in der letzten Legislaturperiode ernannten Richtern verweigerte. Und im dritten Fall, weil der Präsident vier Richter in der Nacht auf den 3. Dezember vereidigte, die am Vortag mit den Stimmen der Regierungspartei gewählt worden waren. Der frühere Bürgerrechtsbeauftragte und ehemalige Präsident des Verfassungsgerichts, Andrzej Zoll kommt zu einem ähnlichen Schluss. Der Staatspräsident habe seine Kompetenzen deutlich überschritten. Es handle sich hier um einen „Angriff auf die Unabhängigkeit der Gerichte im Allgemeinen“ sowie auf die „Gewaltenteilung als fundamentalen Grundsatz eines demokratischen Rechtsstaates“. Marek Safjan, Richter am Europäischen Gerichtshof in Straßburg und ehemaliger Richter des polnischen Verfassungsgerichts beklagte die „Nichtbefolgung der Verfassung durch die höchsten Organe des Staates“ und sieht in der „Lähmung des Verfassungsgerichts“ eine „ernsthafte Bedrohung für die demokratische Grundordnung“.

Personalwechsel in Medien und öffentlicher Verwaltung

Nicht nur im Verfassungsgericht zeigt sich der Wunsch der neuen Regierung nach einer schnellen Neubesetzung der Posten. Seit Neujahr ist ein Gesetz in Kraft, dass die Struktur der öffentlichrechtlichen Medien grundlegend verändert. Die Direktoren der Rundfunkanstalten sowie die Leitung der Presseagentur PAP werden zukünftig nicht mehr durch den Landesrundfunkrat gewählt, sondern vom Schatzminister der Regierung ernannt. Auch die Änderung der Statuten bedarf zukünftig keiner Genehmigung mehr durch den Rundfunkrat. Am vergangenen Freitag, einen Tag nach Inkrafttreten des Gesetzes übernahm mit Jacek Kurski ein von der Regierung ernannter Direktor die Leitung des Fernsehsenders TVP.

Dass dies erst den Anfang eines Umbaus der öffentlich-rechtlichen Medien darstellt, daran ließ die Regierungspartei keinen Zweifel. Bereits vor Inkrafttreten dieses sogenannten „kleinen Mediengesetzes“ rief ein Abgeordneter der PiS Journalisten zur Zusammenarbeit an einem „großen Mediengesetz“ auf. Relativ unbeachtet bereitet die Regierung einen Personalwechsel in der öffentlichen Verwaltung vor. Zeitgleich zum Mediengesetz unterzeichnete Präsident Duda ein Gesetz, nachdem Leitungsposten in der Verwaltung nicht mehr über einen Wettbewerb, sondern durch direkte Ernennung besetzt werden. Darüber hinaus entfällt die fünfjährige Sperrfrist für Angehörige politischer Parteien. Zukünftig reicht es aus, mit Antreten der neuen Funktion das Parteibuch abzugeben.

Brüssel mahnt, die Zivilgesellschaft läuft Sturm

„Herr Timmermans ist für mich kein legitimer Gesprächspartner“, Polens Außenminister Waszczykowski fand auf die von der EU-Kommission geäußerten Bedenken eine deutliche Antwort. Noch bevor er auf diplomatischem Wege den Brief von Frans Timmermans beantwortete, kritisierte er den Vizepräsidenten der Kommission und holländischen EU-Kommissar für Rechtsstaatlichkeit in einem Interview mit der BILD-Zeitung. Kritik am eigenen Regierungshandeln bezeichnet die Partei Recht und Gerechtigkeit häufig als „antipolnisch“, insbesondere dann, wenn sie von deutschen EU-Politikern stammt. Derweil stehen längst nicht alle Polen hinter dem Kurs der neuen Regierung. Gegen die geplanten Änderungen über Besetzung und Funktionsweise des Verfassungsgerichts protestierten im Dezember Zehntausende. In zahlreichen Städten haben sich Ableger der Bürgerbewegung „Komitee zur Verteidigung der Demokratie“ gebildet, die auch am vergangenen Sonntag landesweite Proteste gegen das neue Mediengesetz organisierten. In einer Umfrage des polnischen Meinungsforschungsinstituts Ipsos vom 11. Dezember sehen 56 Prozent der Befragten die Demokratie in Polen als gefährdet an.

Auch konservative Intellektuelle, die der Partei von Jarosław Kaczyński eigentlich nahe stehen, gehen auf Distanz. Die renommierte Soziologin Jadwiga Staniszkis, die bisher keinen Hehl aus ihrer Unterstützung für Recht und Gerechtigkeit machte, bemerkte zuletzt in einem Interview, dass sich Abgeordnete der PiS inzwischen offenbar dafür schämten bei der elektronischen Abstimmungen wie üblich die Hand zu heben. In einem Appell an die Parlamentsabgeordneten beider Kammern vom 17. Dezember 2015 warnen zivilgesellschaftliche Organisationen davor, mit der Einschränkung des Verfassungsgerichts den Polen ein „Weihnachtsgeschenk zu machen, das den Rechten und Freiheiten der Bürger einen Schlag versetzt“. Neben polnischen Institutionen wie dem Institut für öffentliche Angelegenheiten und der Batory-Stiftung finden sich unter den Unterzeichnern auch der polnische Zweig von Amnesty International und die Helsinki-Stiftung für Menschenrechte. Letztere hatte bereits in einer früheren Erklärung den Gesetzesentwurf kritisiert und warnte davor, dass Verfassungsgericht könne seine Fähigkeit zur Rechtsprechung einbüßen. Die Stiftung ist mit dem polnischen Helsinki-Komitee verbunden, das im Zuge der Helsinki-Schlussakte von 1975 entstand und maßgeblich an der Durchsetzung der Menschen- und Bürgerrechte in den Staaten des Warschauer Paktes beteiligt war.

Das Verfassungsgericht zwischen den Fronten – ein Ende in Sicht?

Die Einsetzung von Verfassungsrichtern war schon zu früheren Zeiten ein Politikum, gibt die Breslauer Rechtsprofessorin Anna Śledzińska-Simon zu bedenken. Eine direkte politische Attacke wie in den letzten Monaten sei jedoch nie dagewesen, schreibt die Juristin. Statt als Hüter der Verfassung das Regierungshandeln zu überwachen, sei das Gericht zwischen die politischen Fronten geraten. Eine weitere Politisierung des Gerichts ist auch die erklärte Sorge des Verfassungsgerichtspräsidenten, Andrzej Rzepliński. Gestern erklärte er überraschend, dass zwei der Richter, die im Herbst mit den Stimmen der Regierungspartei gewählt worden waren, in die Rechtsprechung miteinbezogen werden. Zwar fehlen nach wie vor drei Stühle auf der Richterbank. Aber es zeichnet sich ein Kompromiss ab.

Verfassungskrise in Polen – Chronologie

Umstrittene Besetzung von Richterposten durch die vorherige Regierung

• Am 25. Juli 2015 beschließt das Parlament mit den Stimmen der damaligen Regierungskoalition aus Bürgerplattform (PO) und Bauernpartei (PSL) eine Gesetzesänderung über das Verfassungsgericht, die dem Parlament erlaubt, Nachfolger für alle Richter zu bestimmen, deren Amtszeit 2015 endet. Bis dahin wurden Richter im Verfassungsgericht erst mit Ende der Amtszeit des Vorgängers vom Parlament gewählt. Der Gesetzesentwurf war bereits im November 2013 vom damaligen Präsidenten Komorowski eingebracht worden.

• Am 8. Oktober, zwei Wochen vor den Parlamentswahlen wählen die Regierungsparteien PO und PSL im Sejm 5 neue Verfassungsrichter. Darunter sind zwei, deren Amtszeit erst Anfang Dezember beginnt. • Der im Frühjahr gewählte Präsident Andrzej Duda (PiS) verweigert die Vereidigung aller 5 neu gewählten Richter. Die Vereidigung ist üblicherweise eine Formsache und soll laut Verfassung „unverzüglich“ nach der Wahl der Richter geschehen.

Neue Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit setzt eigene Richter ein

• Am 12. November tritt das neu gewählte Parlament zusammen. Die Partei Recht und Gerechtigkeit, PiS hält die absolute Mehrheit in beiden Kammern, Sejm und Senat.

• Am 19. November, eine Woche nach der ersten Sitzung des Sejms wird mit Stimmen der PiS und des rechtspopulistischen Bündnisses KUKIZ ein neues Gesetz über die Ernennung von Verfassungsrichtern verabschiedet. Das Gesetz erlaubt eine erneute Ernennung aller 5 Richter und begrenzt die Amtszeit des aktuellen Präsidenten und des Vizepräsidenten des Verfassungsgerichts. Es wird noch am Abend von Präsident Duda unterzeichnet, eine Woche nach dem der Entwurf erstmals im Sejm besprochen wurde.

• Am 25. November erklären die Abgeordneten von PiS und KUKIZ die Ernennung der 5 Richter durch den vorherigen Sejm für ungültig.

• Am 2. Dezember wählt der Sejm mit den Stimmen von Recht und Gerechtigkeit 5 neue Verfassungsrichter. Vier der neuen Richter werden noch in der Nacht (nach Mitternacht) von Präsident Duda vereidigt. Der fünfte Richter leistet seinen Eid eine Woche später.

• Am 3. Dezember gegen 15 Uhr erklärt das Verfassungsgericht in einem Urteil 3 der 5 im vorherigen, von der Bürgerplattform (PO) dominierten Sejm gewählten Richter als verfassungsgemäß. Die Ernennung der beiden Richter, deren Amtszeiten erst am 3. und 9. Dezember beginnen, ist dagegen laut Urteil verfassungswidrig. • Die Vereidigung der drei verfassungsgemäß gewählten Richter durch Präsident Duda steht weiterhin aus. • Die fünf durch die neue Regierung ernannten und bereits vereidigten Richter nehmen vorerst nicht an der Rechtsprechung teil.

Kampf um das Verfassungsgericht

• Ein Urteil des Verfassungsgerichts vom 9. Dezember erklärt den Großteil der durch die PiS beschlossenen Gesetzesänderungen vom 19. November für verfassungswidrig. • Das Urteil wird zunächst von der Kanzlei der Premierministerin Beata Szydło zurückgehalten und nicht wie vorgesehen in den Amtsblättern veröffentlicht. Erst am 11. Dezember kündigt ein Mitarbeiter der Regierung die Veröffentlichung des Urteils an. Am Abend erklärt Jarosław Kaczyński, Chef der Regierungspartei in einem Fernsehinterview, man könne „nicht zulassen, dass das Urteil veröffentlicht wird“.

• Am 12. Dezember finden vor dem Verfassungsgericht in Warschau und in mehreren polnischen Städten Demonstrationen für die „Verteidigung der Demokratie“ statt. Am nächsten Tag kommt es zu einer Gegendemonstration von PiS-Anhängern in Warschau, auf der Jarosław Kaczyński spricht.

• Erst am 18. Dezember wird das Urteil vom 9. Dezember veröffentlicht.

• Am 7. Januar entschließt das Verfassungsgericht das Verfahren über die Rechtmäßigkeit der Einsetzung von Richtern einzustellen.

• Am 12. Januar 2016 erklärt der Verfassungsgerichtspräsident, dass zwei der Richter, die im Herbst mit den Stimmen der Regierungspartei gewählt worden waren, in die Rechtsprechung miteinbezogen werden.

Zweiter Anlauf: Umbau des Verfassungsgerichts über Weihnachten

• Am 15. Dezember wird ein neuer Gesetzesentwurf in den Sejm eingebracht. Statt auf die Neubesetzung von Richterposten zielt er auf die Arbeitsweise des Verfassungsgerichts ab. Die Amtszeit der Richter soll beschränkt werden, Entscheidungen des Plenums verlangen zukünftig Zweidrittelmehrheit und die Anwesenheit von mindestens 13 statt bisher 9 Richtern, Verhandlungen können höchstens drei Monate nach Einladung der Beteiligten stattfinden. Außerdem soll die Abwahl des Präsidenten des Verfassungsgerichts und Disziplinarverfahren gegen einzelne Richter erleichtert werden. Staatspräsident und Justizminister sollen Disziplinarverfahren einleiten dürfen.

• Am 22. Dezember, eine Woche nachdem der Entwurf eingebracht wurde, beschließt der Sejm das Gesetzespaket. Es wird schon am nächsten Tag dem Senat vorgelegt und an Heiligabend um drei Uhr nachts verabschiedet.

• Über Weihnachten äußern der Beauftragte für Bürgerrechte (Ombudsmann) und der Landesjustizrat (beides Verfassungsorgane), sowie mehrere Richtervereinigungen, Rechtsfakultäten und Bürgerrechtsorganisationen Bedenken über die Verfassungskonformität der Gesetzesänderungen. Zahlreiche polnische Rechtsexperten sehen die Handlungsfähigkeit des Gerichts und damit die Gewaltenteilung als gefährdet an. Das Gesetz wird nach den Feiertagen, am 28. Dezember von Präsident Duda unterzeichnet und am selben Tag veröffentlicht. • Gegen das Gesetz reichen Abgeordnete der Bürgerplattform und der erste Vorsitzende des höchsten Gerichtshofs Verfassungsklage ein. Der Präsident des Verfassungsgerichts veröffentlicht am 29.12.15 eine Erklärung, in der er die Handlungsunfähigkeit des Verfassungsgerichts durch die Änderungen als bedroht beschreibt. In Englisch hier. Eine Entscheidung steht bisher aus.

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