Das ist ein historischer Erfolg - für die Europäische Union, für eine neue, solidarische Migrationspolitik und für den Schutz von Menschenrechten. #GEAS
— Nancy Faeser (@NancyFaeser) June 8, 2023
Von der Notwendigkeit einer Asylreform
Derzeit werden Asylbewerber*innen in den EU-Ländern nicht einheitlich behandelt, sodass der Anteil der positiven Asylentscheidungen von Land zu Land sehr unterschiedlich ist. Dies führte in den vergangenen Jahren dazu, dass Asylbewerber*innen meist in solche Länder reisen, in denen sie vermutlich eine höhere Chance auf internationalen Schutz haben.
Die sogenannte “Flüchtlingskrise” von 2015 und die damit einhergehenden Ungleichheiten in der Behandlung von Geflüchteten abhängig vom Aufnahmeland machten schließlich die Notwendigkeit einer Reform deutlich. Während die EU-Kommission verbindliche Verteilungsquoten vorschlug, um die Lasten der Aufnahme und Integration gerechter auf die EU-Mitgliedstaaten zu verteilen, lösten diese Vorschläge kontroverse Debatten und Uneinigkeit zwischen den Mitgliedstaaten aus. Nach jahrelangem Ringen konnte man sich auf folgende Hauptziele einigen: ein gemeinsamer Rahmen für die Migrations- und Asylsteuerung, die Verbesserung der Effizienz des Systems, die Erhöhung der Widerstandsfähigkeit gegen Migrationsdruck, die Beseitigung von Pull-Faktoren und Sekundärbewegungen (wenn Migrant*innen das Land, in dem sie zuerst angekommen ist, verlassen, um woanders Schutz zu suchen oder sich dauerhaft niederzulassen) sowie die Bekämpfung von Missbrauch bei gleichzeitiger besserer Unterstützung der von der Migration am stärksten betroffenen Mitgliedstaaten.
Übersicht der Legislativvorschläge
Mit der im Juni verabschiedeten Position des EU-Rats gehen einige Legislativvorschläge einher. Zunächst soll es eine neue Verordnung zur Steuerung von Asyl und Migration geben. Das derzeitige Dublin-System, das festlegt, welcher Mitgliedstaat für die Bearbeitung eines Asylantrags zuständig ist, soll hiermit durch einen neuen Solidaritätsmechanismus ersetzt werden, der die Verantwortung gleichmäßiger auf die Mitgliedstaaten verteilt. Die Eurodac-Datenbank, die Fingerabdrücke von irregulären Migrant*innen und Asylbewerbenden enthält, soll ebenfalls reformiert werden, um zusätzliche Daten zu sammeln, den Zugang für die Strafverfolgungsbehörden zu vereinfachen und die Kontrolle und Aufdeckung von unerlaubten Bewegungen innerhalb der EU zu unterstützen.
Darüber hinaus ersetzt seit Januar 2022 die Agentur der Europäischen Union für Asylfragen (EUAA) das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO). Das sollte dazu dienen, das Funktionieren des gemeinsamen europäischen Asylsystems zu verbessern, indem die EUAA den Mitgliedstaaten operative und technische Unterstützung bietet und die Kohärenz bei der Beurteilung von Anträgen auf internationalen Schutz gewährleistet. Am 22. Juni 2022 gab der Rat zudem grünes Licht für Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament bezüglich einer neuen Screening-Verordnung, die darauf abzielt, das korrekte Verfahren für Personen festzulegen, die in die EU einreisen, ohne die Einreisebedingungen zu erfüllen. Sie umfasst die Identifizierung, Gesundheits- und Sicherheitsprüfungen, die Abnahme von Fingerabdrücken und die Registrierung in der Eurodac-Datenbank. Jener Beschluss bezieht sich auf Vorschläge der EU-Kommission im Rahmen des Migrations- und Asylpakets vom 23. September 2020.
Der Vorschlag zielt also insgesamt darauf ab, einheitliche Aufnahmebedingungen für alle Asylbewerber*innen zu schaffen, einschließlich des Rechts auf Arbeit, des Rechts auf Bildung für Minderjährige und der Notwendigkeit, für unbegleitete Minderjährige einen Vormund zu bestellen. Kritik erntete hierbei vor allem die Einrichtung von Aufnahmezentren an den EU-Außengrenzen, in welche Menschen aus als sicher geltenden Herkunftsländern nach ihrer Ankunft gebracht werden sollen und wo ihr Anspruch auf Asyl geprüft werden soll.
Grenzverfahren - Mehr Verteilungsgerechtigkeit oder Aushöhlung von Menschenrechten?
Sollten die Pläne der EU-Kommission umgesetzt werden, so würde die bislang bestehende Dublin-Verordnung, nach welcher die Zuständigkeit für Asylanträge beim Land der Ersteinreise liegt, also verändert werden. In den durch das neue “Grenzverfahren” an den europäischen Außengrenzen eingerichteten Aufnahmeneinrichtungen sollen Staatsangehörige aus Ländern mit geringen Chancen auf Asylgewährung für die Dauer der Prüfung ihres Asylstatus bleiben. Bislang war diese Praxis insbesondere in Griechenland etabliert, nun soll sie einen rechtlichen Rahmen erhalten.
Obwohl Polen und Ungarn Widerstand leisteten, wurde die Vereinbarung mit qualifizierter Mehrheit angenommen. Diese Vereinbarung führt gleichzeitig einen “Solidaritätsmechanismus” ein, der die Umsiedlung von Geflüchteten in andere EU-Mitgliedstaaten ermöglicht. Es steht den Mitgliedstaaten jedoch frei, sich an der Umsiedlung zu beteiligen oder sie abzulehnen und stattdessen eine finanzielle Entschädigung von 20.000 Euro pro Antragsteller*in zu bezahlen. Damit die Vereinbarung vor Ende der Legislaturperiode 2024 in Kraft treten kann, bedarf sie der Zustimmung des Europäischen Parlaments, wo die Mehrheit eine laxere Asylpolitik und eine verpflichtende Verteilung der Geflüchteten auf die Mitgliedstaaten unterstützt.
Die Reformvorschläge beinhalten auch, dass abgelehnte Asylsuchende in Zukunft in Länder außerhalb der EU abgeschoben werden können, wenn sie eine Beziehung zu diesem Land haben. Was genau als solche Beziehung gilt, soll von den Mitgliedsstaaten entschieden werden, die für das Asylverfahren verantwortlich sind. Es könnte möglicherweise genügen, wenn die betroffenen Personen das jeweilige Land nur durchquert haben.
Während des europäischen Gipfels in Brüssel im Juni behinderten Polen und Ungarn erneut die Annahme einer Erklärung zur Migrationspolitik und weigerten sich, einen Kompromiss in dieser Frage einzugehen. Eine gemeinsame Schlussfolgerung kam somit nicht zustande, sodass der endgültige Text lediglich die Ansichten des Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel, widerspiegelte und nicht die kollektiven Ansichten aller 27 Mitgliedstaaten. Diese Meinungsverschiedenheit führte zu einem öffentlichen Schlagabtausch zwischen der italienischen Premierministerin Giorgia Meloni, die den Migrationspakt unterstützt, und dem polnischen Premierminister, Mateusz Morawiecki – obwohl beide doch für eine harte, restriktive Migrationspolitik stehen.
Die Verhandlungen werden nun mit den Mitgliedern des Europäischen Parlaments fortgesetzt, um die Vereinbarungen fertigzustellen. Charles Michel erklärte, der Migrationspakt sei bestätigt worden und werde umgesetzt, und betonte die Fortschritte in der EU-Migrationspolitik. Der Präsident des Europäischen Rates bleibt dennoch nach wie vor zuversichtlich, dass die europäischen Rechtsvorschriften eingehalten würden. Auch Olaf Scholz äußerte sich optimistisch über die Umsetzung des Pakts und forderte rasche Fortschritte in dieser Frage vor den nächsten Europawahlen.
Eine berechtigte Kritik?
Die Reform sieht insgesamt vor, dass Grenzverfahren, in denen Schutzsuchende festgehalten werden, verschärft werden sollen. Die Dauer dieser Verfahren soll von vier auf bis zu zwölf Wochen erhöht und somit insgesamt auf 16 Wochen verlängert werden. Dabei wird befürchtet, die Internierung von bereits durch die Flucht traumatisierten Menschen könnte eine zusätzliche psychische Belastung darstellen. Gleichzeitig würden falsche Ablehnungen wahrscheinlicher, sodass Personen trotz erhöhter Gefahr in unsichere Drittstaaten oder zurück in ihre Herkunftsländer abgeschoben würden.
Bestimmte Personengruppen, bei denen die EU-weite Anerkennungsquote unter 20 Prozent liegt, sollen fortan immer in diese Grenzverfahren kommen. Das betrifft beispielsweise Migrant*innen aus Ländern wie der Türkei, Indien, Tunesien, Serbien oder Albanien. Die Reform ermöglicht es auch den Mitgliedstaaten, Deals mit außereuropäischen Drittstaaten abzuschließen. Hierbei ist es wichtig, dass eine Verbindung zwischen der schutzsuchenden Person und dem “sicheren Drittstaat” besteht, die genaue Definition liegt jedoch im Ermessen der Mitgliedstaaten selbst. Dadurch könnten Abschiebungen in unsichere Drittstaaten und Kettenabschiebungen ermöglicht werden.
Trotz der Reform bleibt das Grundproblem des europäischen Aufnahmesystems dabei auch weiterhin ungelöst, und die Verantwortung liegt nach wie vor beim Ersteinreisestaat (Dublin-System). Es wird also ein Solidaritätsmechanismus vorgeschlagen, der keine effektive Entlastung für die Außengrenzstaaten durch Umverteilung von Geflüchteten vorsieht. Stattdessen können Geldzahlungen oder Abkommen zur Flüchtlingsabwehr an außereuropäische Drittstaaten erfolgen. Zur Kompensation potentieller Defizite bei zugesagten Umsiedlungen werden Verantwortungsausgleiche, sogenannte responsibility offsets, als sekundäre Solidaritätsmaßnahme für begünstigte Mitgliedstaaten eingeführt. Hierbei übernimmt der kontribuierende Staat die Begutachtung von Asylanträgen, die regulär dem begünstigten Staat obliegen würden. Dieses Verfahren wird obligatorisch, sofern Umsiedlungszusagen unter 60% des vom Rat definierten Jahresbedarfs liegen oder die regulative Zahl von 30.000 nicht erfüllen.
Einigung um eine neue Krisenverordnung
Darüber hinaus einigten sich am 05. Oktober 2023 die EU-Länder vorläufig über neue Regeln für zukünftige Migrationskrisen, die eine schnelle Aktivierung von Solidaritätsmechanismen vorsehen. Die Krisenverordnung war die letzte Komponente der gemeinsamen europäischen Asyl- und Migrationspolitik und Teil des Migrations- und Asylpakets, das 2020 von der Kommission vorgeschlagen wurde.
Das neue Gesetz soll den Mitgliedstaaten helfen, Krisensituationen im Asyl- und Migrationsbereich zu bewältigen und ebnet den Weg für gemeinsame Regen im Falle unerwarteter Massenzuströme von Asylbewerber*innen. In “Krisenzeiten” sollen demnach besondere Vorschriften für Asyl- und Rückkehrverfahren gelten. Die Verordnung ermöglicht strengere Maßnahmen, einschließlich der Verlängerung der Inhaftierung von Asylsuchenden. Die Reform zielt darauf ab, klare Regeln für alle EU-Mitgliedstaaten zu etablieren und bietet verschiedene Möglichkeiten zur Steuerung der Migrationsströme. Ein Mitgliedstaat in einer Krise kann somit Solidarität von anderen EU-Ländern in Form von Umsiedlung, Verrechnung der Verantwortlichkeit oder Finanzbeiträgen anfordern. Diese Maßnahmen müssen vom Rat genehmigt und Grundrechte respektiert werden. Die Krisenverordnung würde auch in Situationen greifen, in denen Migration instrumentalisiert und als politische “Waffe” eingesetzt wird, wie im Fall von Belarus 2021.
Diese Einigung wurde während eines Botschafter*innentreffens in Brüssel getroffen, nachdem Italien in der Woche zuvor den Entwurf blockiert hatte. Hauptstreitpunkt war die Rolle von NGO-Schiffen im Mittelmeer, die Italien als Anziehungsfaktor für Migrant*innen sieht. Deutschland hatte sich monatelang gegen die Reform gesperrt und betonte die humanitäre Verpflichtung zur Rettung von Menschenleben. Die Ablehnung des Vorschlags durch Berlin wurde vor allem damit begründet, dass die Verordnung EU-Ländern bei einem besonders hohen Migrant*innenzustrom erlauben würde, die Schutzstandards für diese Personen unangemessen zu reduzieren. Nach der Einigung haben die Organisation Pro Asyl und Amnesty International Deutschland den Kurswechsel der Bundesregierung scharf kritisiert. Auch aus politischen Kreisen, sowohl von links als auch von rechts, gab es Kritik an den geplanten Änderungen des Europäischen Asylrechts.
Insgesamt stimmten Ungarn und Polen gegen den Text, während Österreich, Tschechien und die Slowakei sich enthielten. Das Verhandlungsmandat für die Verordnung dient als Grundlage für Gespräche zwischen dem Ratsvorsitz und dem Europäischen Parlament. Nach dem Abkommen vom Mittwoch werden die Gespräche mit dem Ziel fortgesetzt. Weiterhin wird Migration einer der Hauptschwerpunkte der spanischen EU-Ratspräsidentschaft sein, die am 1. Juli 2023 begann. So erklärte der spanische Premierminister Pedro Sánchez, das EU-Migrationspaket bis Ende 2023 abschließen zu wollen. Fernando Grande-Marlaska Gómez, der amtierende spanische Innenminister, betonte ebenfalls den bedeutenden Fortschritt und die Hoffnung auf eine Einigung mit dem Europäischen Parlament zum gesamten Asyl- und Migrationspakt bis Ende des Halbjahres. Auch das Europäische Parlament ist bestrebt, vor Ende der Legislaturperiode im Juni 2024 ein erfolgreiches Ergebnis zu erzielen und alle Elemente des Neuen Pakts vor den Europawahlen abzuschließen. Ein Scheitern der von der Kommission vorgeschlagenen Reform im Jahr 2020 wäre im Wahlkampf schwer zu erklären.
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