Wie Estland zu einer neuen Regierung kam

Rückkehr des Wunderkinds?

, von  Marcel Knorn

Rückkehr des Wunderkinds?
Amtseinführung der Premierministerin Kaja Kallas (r.) und ihres Kabinetts - coronakonform an der frischen Luft, selbst bei eisigen Temperaturen. Foto: Flickr / Stenbocki maja / CC BY-NC 2.0

Machtspiele, ein zweifelhaftes Referendum, Korruption, Geldwäsche: bei genauerem Hinblick liest sich der Regierungswechsel in Estland wie ein Politkrimi. Doch während Europa am 13. Januar gespannt nach Italien schaute, gingen die Vorkommnisse in Tallinn auf dem Medienradar eher unter. Wenig später tritt in Italien Conte ab, in Estland kommt Kallas – und das estnische Intermezzo der Ultrarechten ist vorbei. Ein Rück- und Ausblick.

Nicht wenige Bürger*innen Estlands dürften sich am Morgen des 13. Januars nach dem ersten Blick auf ihr Smartphone die Augen gerieben haben: Über Nacht war die Regierung zerfallen. Es war kurz nach 3 Uhr morgens, als Premierminister Jüri Ratas nach mehrstündigen Beratungen seinen Abtritt verkündet hatte. Als die Sonne über Tallinn aufging, lag sein Rücktrittsgesuch bereits auf dem Schreibtisch der Präsidentin. Für viele progressiv gestimmte Menschen in Estland endete damit ein kurzes, aber zähes Kapitel der politischen Geschichte ihres Landes.

22 Monate Skandalregierung im Schnelldurchlauf

Am 3. März 2019 gewann die oppositionelle liberale Reformpartei (estn. Reformierakond) unter ihrer Vorsitzenden Kaja Kallas die Parlamentswahlen. Nationale und internationale Medien kürten Kallas bereits zur ersten weiblichen Ministerpräsidentin des Landes. Doch die voreilige Prognose schlug fehl. Um nicht zum Juniorpartner einer reformgeführten Koalition zu werden, schuf der Amtsinhaber und Vorsitzende der Zentrumspartei (estn. Keskerakond) Jüri Ratas einen bis dahin undenkbaren Bund: Gemeinsam mit der rechtskonservativen Vaterlandspartei (estn. Isamaa) und der ultrarechten Konservativen Volkspartei EKRE (estn. Eesti Konservatiivne Rahvaerakond) sicherte er sich die Mehrheit im estnischen Parlament. So umging die ungewöhnliche Koalition aus von Mitte-links bis Außen-rechts die Reformpartei als Wahlgewinnerin.

Die populistische EKRE gab jedoch bald den Ton innerhalb der Koalition an. Da Jüri Ratas zur Regierungsbildung auf die Hilfe von rechts angewiesen war, musste er die zahlreichen Skandale der EKRE-Minister*innen aussitzen: Indem der Innenminister Mart Helme zum Beispiel die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin als „Verkäufermädchen“ denunzierte, belastete er das Verhältnis zum wichtigen Partner Finnland entscheidend. Dennoch war Ratas derjenige, der sich für die Äußerungen öffentlich entschuldigte. Als Mart Helme und dessen Sohn Martin, damals Finanzminister, mit Gesten der White-Supremacy-Bewegung auftraten, geriet der rechte Regierungsflügel erstmals auch in die internationalen Schlagzeilen. Die EKRE-kritische Staatspräsidentin Kersti Kaljulaid musste fortan um die Reputation des Baltenstaates feilschen, der bis dahin als EU-Musterschüler bekannt war.

Als Helme Senior die Rechtmäßigkeit des Wahlsieges von US-Präsident Joe Biden in Frage stellte, war für viele seiner Regierungskolleg*innen eine Grenze erreicht. Um dem drohenden Amtsenthebungsverfahren zu entgehen, trat Helme im November 2020 als Innenminister zurück. Diese Entscheidung traf er jedoch nicht aus Reue, sondern mit der Begründung, dass er sich weigere, „einen Maulkorb aufgesetzt zu bekommen“. Zudem wolle er ein anstehendes Referendum vor angeblicher Hetze schützen. Im April 2021 sollten die Bürger*innen Estlands entscheiden, ob das im Familienstandsgesetz festgelegte Verständnis von Ehe weiterhin als Bund zwischen Mann und Frau festgeschrieben sein soll. Menschenrechtsorganisationen zeigten sich empört. Sie kritisierten, das Referendum sei lediglich dafür gedacht, angesichts der kommenden Kommunalwahlen Stimmung gegen Minderheiten zu machen. Die nicht rechtlich bindende Befragung sollte das Staatsbudget inmitten der Pandemie zusätzlich mit mindestens acht Millionen Euro belasten.

Auch innerhalb der Koalition entbrannte bald eine hitzige Debatte um die Volksbefragung: Zunehmend waren auch Abgeordnete der Koalitionspartner die EKRE-Eskapaden leid und bezeichneten das Vorhaben als irreführend: Ein Votum für Ja hätte lediglich den Status Quo bestätigt, wohl aber in EKREs Augen die eigene LGBTQI*-Feindlichkeit legitimiert. Im Falle eines Votums für Nein sei nach Meinung der Kritiker*innen überhaupt keine Konsequenz absehbar gewesen. Bislang steht gleichgeschlechtlichen Paaren in Estland kein Zugang zur Ehe offen, sondern nur zu registrierten Partnerschaften.

Porto Franco: Ende einer Koalition

Trotz des Unmuts in den eigenen Reihen konnten die Regierungsparteien die Volksabstimmung durch mehrere Kommissionen drücken. Erst ein Skandal um eine berüchtigte Immobilie brachte die Regierung und ihr Vorhaben zu Fall: Porto Franco, bezeichnenderweise der italienische Name für Freihäfen, heißt das monumentale Geschäfts- und Einkaufszentrum. Es entsteht unweit der mittelalterlichen Altstadt Tallinns am internationalen Fährhafen. Über 190 Millionen Euro kostet der Gebäudekomplex, der im April dieses Jahres seine Türen öffnen soll. Am 12. Januar 2021 gab die estnische Staatsanwaltschaft jedoch bekannt, man habe im Fall Porto Franco Anzeige auf Grund von Korruption eingereicht. Dabei wurde auch ein Verdacht gegen Mitglieder von EKRE und der Zentrumspartei erhoben.

Im Mittelpunkt des Verfahrens stehen zum einen der Investor Hillar Teder, Vater des Porto-Franco-Geschäftsführers, und Kersti Kracht, EKRE-Mitglied und Beraterin im Finanzministerium. Die Anklage lautet auf Bestechung und Geldwäsche: Porto Franco hatte beim staatlichen Kreditfond KredEx 40 Millionen Euro an Corona-Hilfskrediten beantragt. Für mehrere hunderttausend Euro sollte Kracht die Kreditentscheidung bei KredEx positiv beeinflussen. Zudem sollen Kracht und Teder versucht haben, die Bestechungszahlungen zu verschleiern.

Zum anderen soll auch der Generalsekretär der Zentrumspartei Mihhail Korb an illegaler Einflussnahme beteiligt gewesen sein. Der Staatsanwaltschaft zufolge soll Korb dem Investor Hillar Teder Baurechte auf städtischen Flächen in Aussicht gestellt haben. Für die Genehmigung bedurfte es einer Zustimmung der Bauverwaltung der Hauptstadt, in der die Zentrumspartei regiert. Im Gegenzug sagte Teder der Partei Spenden von bis zu einer Million Euro zu, 120.000 Euro davon soll er im Jahr 2020 bereits gezahlt haben.

Schon im Frühjahr 2020 witterten einige Unternehmer*innen Korruption im Zusammenhang mit Porto Franco. Als Antwort auf die Spekulationen kündigte Premierminister Jüri Ratas an, zurückzutreten, sollte sich dieser Verdacht erhärten. Als die Staatsanwaltschaft am 12. Januar 2021 ihre Anklage veröffentlichte, hielt Ratas sein Wort. Vor allem die Partei EKRE traf dieser Zeitpunkt ins Mark, denn der Rücktritt verhinderte auch ihre Verordnung zum Ehereferendum. Diese hätte am 13. Januar im Parlament in die zweite Lesung gehen sollen.

Kabinett K. Kallas: Mehr Frauen, mehr Expert*innen

Schon einige Stunden nach Ratas‘ Rücktritt rangen die estnischen Zeitungen mit der Mathematik der Parlamentssitze. Basierend auf den Wahlergebnissen von 2019 ergaben sich verschiedene Szenarien, die Mehrheit der insgesamt 101 Sitze zu erreichen. Die Reformpartei als Wahlgewinnerin musste blitzschnell handeln: Um jeden Preis wollte sie verhindern, erneut übergangen zu werden. Prinzipiell war eine Rückkehr der Skandalkoalition möglich. Nach estnischem Recht ist die Regierung mit Ratas‘ Rücktritt zwar aufgelöst, die Wiedereinberufung der gleichen Koalition aber nicht ausgeschlossen.

Doch die Zentrumspartei schien müde vom Kampf mit Rechtsaußen: Bald ließ ihre Parteiführung durchsickern, nun doch bereit zu sein, Juniorpartnerin der Reformpartei zu werden. Am folgenden Tag begannen die Sondierungen zwischen Reform- und Zentrumspartei, den stimmenstärksten Parteien Estlands.

Am 26. Januar um 8:44 Uhr – wieder bei Sonnenaufgang – wurde Kaja Kallas zur ersten Premierministerin Estlands ernannt. Damit ist das Land aktuell der einzige Staat der Welt, dessen beide höchste demokratische Positionen von Frauen besetzt sind. Auch im Kabinett sind künftig mehr Ministerinnen vertreten als zuvor, neben der Regierungschefin befinden sich sechs der vierzehn Posten in weiblicher Hand. Die Entscheidung, wichtige Schlüsselministerien mit Expert*innen zu besetzen, sorgte für Überraschungen: Die parteilose Außenministerin Eva-Maria Liimets, frühere Botschafterin Estlands in Prag, oder den ebenfalls parteilosen Innenminister Kristian Jaani, Polizeipräfekt für Nordestland, hatten vorher nur wenige auf dem Schirm.


Kurz erklärt: Wer ist Kaja Kallas?

Kaja Kallas, geboren 1973, ist studierte Rechtsanwältin mit Fokus auf nationalem und europäischem Konkurrenzrecht. 2010 trat Kallas in die liberale Reformpartei ein, der auch ihr Vater Siim Kallas angehört. Er war als Gründungsvorsitzender der Reformpartei (1994-2004), sowie als estnischer Premierminister (2002-2003) und Mitglied der Europäischen Kommission (2004-2014) tätig.

2011 zog Kaja Kallas erstmals in das estnische Parlament ein. Von 2014 bis 2018 saß sie als Abgeordnete im EU-Parlament in der Fraktion ALDE. 2018 wurde sie Vorsitzende der Reformpartei und kehrte nach Estland zurück. Nach dem Rücktritt des Premierministers Jüri Ratas wurde Kaja Kallas am 24. Januar 2021 zur ersten Ministerpräsidentin Estlands ernannt.

Ministerpräsidentin auf den zweiten Anlauf: Kaja Kallas im Gespräch mit Angela Merkel am 11. Februar 2021. Foto: Flickr / Stenbocki maja / Flickr License


Covid-19 bekämpfen, Vertrauen zurückgewinnen

Der Fokus der neuen Regierung liegt nach eigenen Angaben darauf, möglichst schnell auf die aktuellen Probleme zu reagieren. In Anbetracht der weltweiten Gesundheits- und Wirtschaftskrise gäbe es keine Zeit zu verlieren – Estland brauche jetzt eine handlungsfähige Führung mit einem breiten politischen Vertrauen der Bevölkerung. Dieses Signal, dass die Regierung Politik für alle Menschen machen wolle, ist auch eine Botschaft an verschiedene Minderheiten im Land, die in den vergangenen Monaten zur Zielscheibe der EKRE-Rhetorik geworden waren.

Der Koalitionsvertrag liest sich wie ein Bekenntnis zu jenem Estland, das man in Europa vor 2019 kannte: Bekämpfung der Klimakrise, Estland als Innovationsstandort, ein Bekenntnis zu EU und NATO, Schutz der Pressefreiheit, Kampf gegen Korruption – es hat den Anschein, dass die Reformpartei wieder Anschluss an die Erzählung vom EU-Musterschüler gefunden hat. Für das estnische Selbstverständnis hat die Rolle vom digitalen Wunderkind eine zentrale Bedeutung: In den fast zwei Jahren mit Rechtspopulist*innen im Parlament fürchteten viele Bürger*innen um dieses Renommee.

Eine Herausforderung für die Reformpartei wird künftig vor allem, ihr Versprechen der Korruptionsbekämpfung glaubhaft zu erfüllen. Es wird sie intensive Überzeugungsarbeit kosten, denn schließlich steht die Zentrumspartei, ihre Koalitionspartnerin, nach Meinung vieler Pressestimmen wie keine andere in Estland für Korruption. Bereits 2014 und 2017 wurde die Zentrumspartei der erkauften Einflussnahme schuldig gesprochen. Es liegt an beiden Parteien, das Land nicht nur wohlerhalten aus der Corona-Krise zu steuern, sondern auch genug öffentliches Vertrauen aufzubauen. Gelingt ihnen das, könnte Estlands rechtes Zwischenspiel bald vergessen sein. Gelingt ihnen das nicht, steht der rechte Flügel für die Parlamentswahlen 2023 schon in den Startlöchern.

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