Schluss mit dem GAP-Unsinn: Warum wir eine neue föderale Lebensmittelpolitik brauchen

, von  Nikolas Kockelmann, Olav Soldal, übersetzt von Henrike Gudat

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Schluss mit dem GAP-Unsinn: Warum wir eine neue föderale Lebensmittelpolitik brauchen
Verschiedene Gemüse an einem Stand in Chantilly, Frankreich Foto: Unsplash / Chantal Garnier / Unsplash Lizenz

Europa braucht einen gemeinschaftlichen Ansatz für eine umweltfreundliche Landwirtschaft, die sicher, gesund und nachhaltig ist. Lebensmittelkennzeichnungen, gemeinsame Tierwohlstandards und “Carbon Farming” (Anreicherung von landwirtschaftlich genutzten Böden mit Kohlenstoff), sind dabei naheliegende Ansatzpunkte. In diesem Artikel nehmen wir etwas Abstand von der ständigen Debatte rund um die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP): Wir ermitteln gemeinsame Nenner in einigen Bereichen und liefern Argumente für neue Institutionen auf EU-Ebene.

Die Gemeinsame Agrarpolitik ist seit mehr als 50 Jahren zentraler Bestandteil des Europäischen Projekts. Sowohl europäische Landwirt*innen als auch Konsument*innen haben von der GAP profitiert und die Lebensmittelbranche florierte so stark, dass sich Europa von einem Nettoimporteur zu einem Nettoexporteur für landwirtschaftliche Produkte entwickelte. Umweltzerstörung und exzessives Konsumverhalten waren die Folgen dieser intensiven Produktion. Die Strukturen der GAP gingen nicht weit genug.

Während Staats- und Regierungschef*innen der Mitgliedsstaaten um die zukünftige Ausrichtung der Lebensmittelpolitik ringen, müssen sich dringend die Prioritäten ändern. Einfach so viel wie möglich zum billigsten Preis zu produzieren, ist nicht mehr haltbar. Die Herausforderung besteht nun darin, unseren Bedarf an Nahrungsmitteln und Nährstoffen decken zu können, ohne der Umwelt zu schaden.

Im Rahmen des Green Deals zielt die Farm-to-Fork (F2F) (deutsch:“Vom-Hof-zum-Tisch”-Strategie) der EU-Kommission darauf ab, die Lebensmittelwirtschaft nachhaltiger zu gestalten. Sie enthält eine Reihe von Vorschlägen wie beispielsweise Gesundheits- und Tierwohlsiegel, die Reduzierung von Chemikalien oder umweltfreundliche Bodenbehandlung. Vor allem aber verknüpft sie Landwirtschaft mit Klimawandel, Umwelt, Gesundheit und Pandemien.

Doch die F2F-Strategie wird in der aktuellen Debatte um die GAP ausgehöhlt: Während des Showdowns zwischen EU-Parlament und EU-Minister*innenrat im letzten Oktober wurden die vorgeschlagenen Biodiversitätsstrategien zugunsten von nationalen, industriellen und gar protektionistischen Interessen umgangen.

Im Herbst 2020 verabschiedete die JEF Europe eine Resolution, die einen Übergang zu einer nachhaltigen Lebensmittelpolitik in der EU fordert. Im Namen der JEF gehen wir in diesem Artikel auf die Hauptpunkte unserer Resolution ein und liefern Vorschläge für eine grünere, gesündere und tierfreundlichere gemeinsame Lebensmittelpolitik in Europa.

Über (und jenseits) von Grenzen

Einzigartige Ökosysteme bilden ein Biotop an der Algarve. Foto: Unsplash / Artem Zhukov / Unsplash Lizenz

Warum brauchen wir eine pan-europäische Lebensmittelpolitik? Warum können nicht die Mitgliedstaaten selbst die Entscheidungen treffen? Ein Beispiel, das die Notwendigkeit grenzübergreifender Zusammenarbeit verdeutlicht, ist das Konzept von Biotopen. Ein Biotop beschreibt die Verknüpfung von Ökosystemen über weitreichende geographische Gebiete (bekannt als Bioregionen) und erhält biologische Integrität aufrecht. Durch die besonderen Umweltbedingungen bieten sie Lebensraum für bestimmte Pflanzen und Lebewesen und sind somit wichtig für die Artenvielfalt.

Europas natürliche Umwelt besteht aus unendlich vielen einzigartigen und unterschiedlichen Biotopen, die sich über traditionelle politische Grenzen und Hoheitsgebiete hinweg erstrecken. Sie sind sehr verschieden und reichen von der unberührten Geographie der Alpen über die riesigen Flussdeltas, wie das Donaudelta zwischen Rumänien und der Ukraine, bis hin zu den einzigartigen maritimen Ökosystemen entlang der portugiesischen Algarve.

Die Naturschutzpolitik eines einzelnen Landes ist dabei allerdings selten ausreichend, um diese seltenen Ökosysteme effektiv zu schützen und eine reiche Artenvielfalt zu bewahren. Ohne die Integration von Naturschutz- und Produktionspolitik auf europäischer Ebene laufen wir Gefahr einen natürlichen Lebensraum in dem einem Land zu schützen, während sich dessen Zustand auf der anderen Seite der Grenze verschlechtert.

Das Biolowieza Waldschutzgebiet, einer der letzten Urwälder in Europa und Heimat der seltenen Wisente, erstreckt sich beispielsweise auf beiden Seiten der polnisch-belarussischen Grenze. 2018 musste dort der Europäische Gerichtshof einschreiten, um die Abholzung auf polnischem Boden zu stoppen. Wichtige Lebensräume waren bedroht. Im belarussischen Teil des Waldes, in nächster Nähe, hatte das Urteil allerdings keinen Einfluss.

Genau wie die europäische Umwelt keine Grenzen respektiert, sollte auch Umweltschutzpolitik keine Grenzen kennen. Die Erhaltung der Integrität eines Biotops erfordert einen ganzheitlichen Ansatz zum Schutz der Ökosysteme und Artenvielfalt, welcher auch die Art und Weise der Bewirtschaftung von Wald- und Ackerland durch Forst- und Agrarwirtschaft umfasst. Der derzeitige GAP-Vorschlag ist jedoch meilenweit davon entfernt, die Ziele der Biodiversitätsstrategie zu erreichen.

Carbon Farming und Bodenschutz

Auch die Erhaltung der Bodenqualität findet als Klimaschutzmaßnahme zunehmend Beachtung: Sowohl in der F2F-Strategie als auch in den Biodiversitätsstrategien wurden diesbezüglich neue Initiativen vorgeschlagen.

Etwa ein Viertel allen Lebens lebt unter unseren Füßen im Boden, welcher genau so viel organischen Kohlenstoff enthält wie Leben über der Erde. Der Boden speichert tonnenweise Kohlenstoff und kann im Laufe der Zeit durch sogenannte Kohlenstoffbindung mehr Kohlenstoff aus der Atmosphäre aufnehmen. Die Entwicklung eines gesunden Bodens dauert mehrere hundert Jahre, daher ist der europäische Bodenschutz elementar für den European Green Deal. Ein kürzlich veröffentlichter UN-Bericht kam jedoch zu dem Schluss, dass sich der Zustand der Böden weltweit verschlechtere.

Carbon farming beschreibt eine Vielzahl von landwirtschaftlichen Methoden, die zeitgleich der Bodenerosion entgegenwirken und den Boden mit Kohlenstoff anreichern. Länder wie Australien, die Schweiz und Costa Rica haben bereits “Carbonfarming-Initiativen” mit Anreizmodellen für Landwirt*innen eingeführt, die pro Kilogramm Kohlenstoff, das der Boden auf ihrem Land jährlich aufnimmt, entlohnt werden. Die EU-Kommission hatte ein ähnliches Modell vorgeschlagen, hauptsächlich in Form eines “EU Carbon farming-Manuals” und sog. ergebnisabhängiger Zahlungen im Rahmen der GAP-Struktur. Der Vorstoß wurde jedoch von EU-Parlament und EU-Minister*innenrat abgeschwächt.

Gesunde Ernährung

Trotz guter Gründe für ein Ampelsystem, was die Auswahl gesunder Lebensmittel erleichtern würde, stimmte das Europäische Parlament 2010 gegen diesen Vorschlag. Laut einem WHO-Bericht sind 50% der europäischen Erwachsenen übergewichtig oder fettleibig. Die Wahl schlechter, ungesunder Lebensmittel stellt mittlerweile eine Frage der öffentlichen Gesundheit dar.

Die F2F-Strategie fordert ein EU-weites Gesundheitssiegel, was es Konsument*innen ermöglichen soll, bessere Kaufentscheidungen zu treffen. Solch ein Label könnte beispielsweise der sog. Nutri-Score sein, der Lebensmittel auf einer Skala von A (grün, gesund) bis E (rot, ungesund) in Bezug auf ihren Salz-, Zucker- und Fettgehalt bewertet. In Frankreich wird der Nutri-Score seit 2017 verwendet und auch in Deutschland kündigte Agrarministerin Julia Klöckner kürzlich die Einführung eines freiwilligen, staatlich geförderten Siegels an.

Die EU-Kommission geht noch weiter und hat zusätzlich vorgeschlagen, Siegel zum CO2-Fußabdruck für Lebensmittel einzuführen. Auch wenn solche Umweltsiegel nicht unbedingt direkt Entscheidungen von Konsument*innen verändern, können sie mittel- und langfristig zur Stärkung des Umweltbewusstseins beitragen.

Tierschutz mitdenken - vom Stall bis auf den Tisch

Kann es so weitergehen auf Nerzfarmen? Foto: Unsplash / Jo-Anne McArthur / Unsplash Lizenz

Bisher werden Tierwohlsiegel nur bei Eiern, Fisch und Bio-Produkten angewendet. Für alle anderen Produkte bestimmen die Mitgliedsstaaten die Labels. Dementsprechend findet man in den Ländern unterschiedliche Standards und Kategorien: von Beter Leven in den Niederlanden, zu bedre dyrevelfaerd in Dänemark und der Initiative Tierwohl in Deutschland.

Das bedeutet, dass die Definition und Messung von Tierwohl sich stark zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten unterscheidet - ein Vergleich von Lebensmitteln über Grenzen hinweg wird erschwert. Eine Reform hinsichtlich Tierwohlsiegeln auf EU-Ebene, die auch Geflügel-, Schweine- und Rindfleisch miteinbeziehen, würde fairere Vermarktungschancen für Produzent*innen ermöglichen und die Transparenz für die Konsument*innen erhöhen.

Die Verringerung des Risikos der Virenübertragung vom Tier auf den Menschen, sowohl in der Pelz- als auch in der Lebensmittelindustrie, muss eine der Top-Prioritäten für jede zukünftige Landwirtschafts- und Lebensmittelpolitik in der EU sein. Dieser Fokus sollte zu einer Verschärfung der Vorschriften für die Zucht und den Handel mit Wildtieren auf dem europäischen Markt und im Ausland führen.

Lebensmittelsiegel können jedoch nicht alle Tierwohlbelange abdecken. Die Käfighaltung von Füchsen, Nerzen und Hasen der Pelzindustrie verursacht großen Schaden und unnötiges Leid. Dies wurde erst kürzlich deutlich als aus Angst vor einer Übertragung des Coronavirus tausende Nerze in Dänemark geschlachtet wurden. Die Verringerung des Risikos der Virusübertragung vom Tier auf den Menschen, sowohl in der Pelz- als auch in der Lebensmittelindustrie, muss eine der Top-Prioritäten für jede zukünftige Landwirtschafts- und Lebensmittelpolitik auf europäischer Ebene sein. Diese sollte zu einer Verschärfung der Vorschriften für die Zucht und den Handel mit Wildtieren auf dem europäischen Markt und im Ausland führen.

Ein Appell für eine föderale Lebensmittelpolitik

Dieser Artikel hat Auszüge der politischen Forderungen der kürzlich beschlossenen JEF-Resolution dargelegt. Er zeigt Bereiche auf, in denen ein europäischer Ansatz in der Lebensmittelpolitik effektiver wäre als nationale Alleingänge.

Bei der Verhandlung der GAP-Siebenjahrespläne hat das Produktivitätsargument leider eindeutig über Umwelt- und Gesundheitsbelange gesiegt. Wir sind überzeugt: Diese Politikbereiche müssen neu austariert werden!

Wie können wir das erreichen? Wir schlagen eine Reihe institutioneller Regelungen vor, die die GAP fit für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts machen können.

Da sich die Lebensmittelbranche mit mehreren Sektoren überschneidet, plädieren wir für die Schaffung des Postens eines*einer Vizepräsident*in der Kommission für Nachhaltige Lebensmittelpolitik. Diese*r Vizepräsident*in wäre dafür zuständig, alle relevanten Politikfelder im Blick zu behalten und die Strategien für Landwirtschaft, Umwelt und Biodiversität aufeinander abzustimmen.

Der*die neue Vize-Präsident*in könnte die politischen Maßnahmen für den Schutz der Biodiversität und die Nutzung von carbon farming-Methoden im Rahmen der GAP koordinieren. Im Falle eines Zielkonflikts zwischen Ernährungs-, Produktions- und Umweltbelangen würde der*die Vizepräsident*in einschreiten, um klare Ziele zu setzen. Außerdem könnte der*die neue Vize-Präsident*in an einem harmonisierten EU-Kennzeichungsstandard arbeiten, der gesundheits-, umwelt- und tierschutzbezogene Angaben enthält, ohne die Agrarbranche zu bevorzugen.

Ein ehemaliger UN-Berichterstatter für Lebensmittelsicherheit bei den Vereinten Nationen hatte bereits in einem Bericht von 2019 die Schaffung einer solchen Stelle empfohlen. Die Stelle würde ergänzt durch die Schaffung eines nicht-verbindlichen Runden Tisches mit Interessenverteter*innen der Lebensmittelbranche. Dieser würde regelmäßig tagen und der Zivilgesellschaft einen transparenten und gleichberechtigten Zugang zum Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss ermöglichen. Nachhaltige Landwirtschaftsbetriebe und Tierwohl-Organisationen erhielten so eine größere Bühne, um ihre Standpunkte vertreten zu können und einen Bottom-Up Ansatz in der EU-Entscheidungsfindung zu integrieren.

Alle progressiven und grünen Stimmen in Europa müssen sich jetzt vereinen, um eine wirklich nachhaltige Lebensmittelpolitik zu fordern, die nicht nur gut für uns Menschen ist, sondern auch für diesen Planeten und die Tiere, mit denen wir ihn teilen!

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