Serbien: Eine Nation steht auf

, von  Moritz Hergl

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Serbien: Eine Nation steht auf
Foto: Nenad Bušić Demonstrierende in der serbischen Hauptstadt Belgrad am zweiten Märzwochenende 2025

Seit Monaten kommt es in Serbien zu Protesten. Was als Empörung über den tragischen Einsturz eines Vordachs in Novi Sad begann, hat sich zu einer Massenbewegung entwickelt. Sie fordern von der Regierung Rechenschaft, Transparenz und demokratische Reformen. Während die von Student*innen angeführten Demonstrationen zunehmen, bleibt die Frage: Kann die Bewegung ihre Wut in greifbare politische Veränderungen umsetzen?

Eine wachsende Protestbewegung

In Serbien sind Proteste keine Unbekanntheit, aber das Ausmaß und die Dauer der aktuellen Demonstrationen sind so groß wie seit den 1990er Jahren nicht mehr, als sich die Menschen gegen die Herrschaft von Slobodan Milošević wehrten. Am Wochenende sind Hunderttausende auf die Straße gegangen, wobei die Schätzungen von 100.000 laut offiziellen Angaben bis zu weit über 300.000 reichen (laut zivilgesellschaftlichen Organisationen). Die Proteste begannen nach dem tödlichen Einsturz eines frisch renovierten Bahnhofsdaches in Novi Sad, bei dem 15 Menschen ums Leben kamen. Die Forderung nach Transparenz im Zusammenhang mit diesem Vorfall weitete sich schnell aus und die Demonstrierenden klagen Korruption, Medienkontrolle und demokratische Rückschritte im Land an.

Um ein Gefühl für die Anzahl der Menschen bei der gestrigen Demo in Belgrad zu erhalten. Das ist eine Drohnenaufnahme von gestern Morgen, während der 15 Schweigeminuten in (meinem) Stadtteil Banovo Brdo. Das Video ist ungeschnitten eineinhalb Minuten lang. #Serbien Quelle: Aleksandar Jovanović Insta

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— Dejan Mihajlović (@mihajlovicfreiburg.com) 16. März 2025 um 08:11

Trotz des zunehmenden Drucks bleibt der Präsident Aleksandar Vučić unnachgiebig. Während er öffentlich die Notwendigkeit von Veränderungen anerkennt, hat seine Regierung stattdessen mit Einschüchterungstaktiken reagiert. So setzte die Polizei am Wochenende wohl eine Waffe ein, die auf Schall oder Hochfrequenzimpulsen basiert. In Videos sieht man, wie Demonstrierende schlagartig auseinandergetrieben werden. Im Januar wurde Premierminister Miloš Vučević entlassen, doch die Demonstrierenden sahen darin eher einen symbolischen Schritt als eine sinnvolle Reaktion auf ihre Forderungen. Die Regierung hat auch versucht, die Berichterstattung zu kontrollieren, indem sie Fehlinformationen verbreitete. So beschuldigten staatliche Medien die Demonstranten etwa, Gewalt zu provozieren. „Das politische System hier wurde durch die Proteste delegitimiert", sagt Nenad Bušić, Vorsitzender der JEF Serbien EMinS (JEF Serbia).

Die wichtigsten Forderungen

Die Protestbewegung, die hauptsächlich von Student*innen angeführt wird, hat vier klare Forderungen aufgestellt:

  1. Vollständige Transparenz in Bezug auf die Katastrophe im Bahnhof von Novi Sad, einschließlich der Freigabe aller Unterlagen.
  2. Gerechtigkeit für die Opfer politischer Gewalt, insbesondere die Ermittlung und Bestrafung derjenigen, die für die Angriffe auf Demonstrierende verantwortlich sind.
  3. Abweisung der Anklagen gegen studentische Aktivist*innen, die wegen ihrer Teilnahme an friedlichen Demonstrationen und Straßenblockaden verfolgt werden.
  4. Eine Aufstockung der finanziellen Mittel für die Universitäten, was die allgemeine Unzufriedenheit mit den Investitionen des öffentlichen Sektors widerspiegelt.

Diese Forderungen enthalten zwar nicht den Rücktritt von Vučić, aber ein wirklicher Wandel würde wohl einen Wechsel an der Spitze des Landes erfordern. Der Präsident übt eine weitgehende Kontrolle über die serbischen Institutionen aus. Bereits im vergangenen Jahr gingen Bürger*innen auf die Straße, um sich gegen ein Lithium-Abbauabkommen zwischen Serbien und Deutschland zu wehren. Während das Abkommen von vielen in der EU als ein Schritt zur Verringerung der Abhängigkeit von China gesehen wurde, sahen viele Menschen in Serbien darin ein weiteres Beispiel für undurchsichtige Entscheidungsprozesse, Umweltbedrohungen und ausländische Einflussnahme.

Eine gefangene Demokratie?

Die Aushöhlung der demokratischen Institutionen in Serbien hat sich seit Jahren angebahnt. Viele sehen in Vučićs Regierung eine Fortsetzung der nationalistischen Politik, die aus den jugoslawischen Konflikten hervorgegangen ist. Oppositionsparteien haben es schwer, an Boden zu gewinnen, während der Präsident seine Macht konsolidiert und Serbien faktisch in einen Ein-Mann-Staat verwandelt. Vom Parlament bis zur Justiz wurden die Institutionen geschwächt, so dass es für demokratische Kräfte schwierig ist, die regierende Serbische Fortschrittspartei (SNS) herauszufordern.

Ein Schlüsselfaktor für den Niedergang der Demokratie in Serbien ist die kontrollierte Medienlandschaft. Wie Nenad Busić von der JEF Serbien erklärt, ist der Zugang zu unabhängigen Informationen begrenzt: „Es gibt keinen öffentlich zugänglichen Sender, der alle Bürger*innen erreicht. Die meisten Medien sind entweder staatlich kontrolliert oder verbreiten regierungsnahe Inhalte und schaffen so ein Umfeld, das einem demokratischen Diskurs entgegensteht.“ Die jüngsten Proteste haben allerdings zu einigen Veränderungen geführt: Der staatliche Sender RTS berichtet nun regelmäßiger über die Demonstrationen, aber viele Medien stehen weiterhin unter dem starken Einfluss der Regierung.

Die internationale Dimension

Trotz der innenpolitischen Unruhen genießt Vučić weiterhin großen internationalen Rückhalt. Seine Regierung profitiert von den wirtschaftlichen Beziehungen zu europäischen Mächten wie Deutschland und Frankreich, die der Stabilität Vorrang vor demokratischen Belangen einräumen. Zwar haben sich einige europäische Politiker den Forderungen der Demonstrierenden angeschlossen, doch die Europäische Union als Ganzes hat es bisher versäumt, entschiedene Maßnahmen gegen den demokratischen Niedergang Serbiens zu ergreifen.

Gleichzeitig unterhält Vučić enge Beziehungen zu Russland. Serbien hat die EU-Sanktionen gegen Moskau nicht durchgesetzt, und der russische Einfluss ist in den Medien und im Energiesektor des Landes nach wie vor groß. Selbst wenn Serbien symbolische Zugeständnisse an westliche Partner macht - wie die Übertragung der Eigentumsrechte an Ölunternehmen von russischen auf amerikanische Firmen -, bleiben die tiefen historischen und politischen Bindungen zu Russland bestehen.

Die Zukunft der Protestbewegung

Serbien steht nun an einem Scheideweg. Die Demonstrierenden drängen auf systemische Reformen, aber ohne eine starke politische Führung wird es eine Herausforderung sein, die Dynamik aufrechtzuerhalten. Die Bewegung bleibt absichtlich führungslos, um sich von den traditionellen Oppositionsfiguren zu distanzieren. Das Fehlen einer klaren politischen Alternative könnte es Vučić jedoch ermöglichen, den Sturm zu überstehen, wie es frühere Regierungen in der Region getan haben.

Filip Janković von der JEF Serbien hebt die tiefe kulturelle Herausforderung hervor: „Serbien ist immer noch zwischen seiner Vergangenheit und seiner Zukunft gefangen. Viele sehen Russland als historischen Verbündeten, während die Enttäuschung über die EU-Integration gewachsen ist. Nur noch 39 % der Bevölkerung befürworten einen EU-Beitritt.“ Das Fehlen eines klaren europäischen Weges in Verbindung mit der weit verbreiteten Frustration über Korruption und wirtschaftliche Stagnation erschwert die Bemühungen, einen nachhaltigen politischen Wandel zu mobilisieren.

Die JEF Europe-Kampagne "Democracy under Pressure" erinnert uns daran, dass der Kampf für die Demokratie nicht zu Ende ist, und dass die internationale Unterstützung für die demokratischen Kräfte in Serbien weiterhin entscheidend ist. In den kommenden Monaten wird sich zeigen, ob die von Studierenden angeführte Bewegung einen echten Wandel erreichen kann oder ob Serbien den Weg des Demokratieabbaus fortsetzen wird.

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