„Herrsche, Britannia! Britannia beherrsche die Wellen; Briten werden niemals Sklaven sein“, singt Nigel Farage, der Vorsitzende der Brexit Party, in einem urkomischen Videoclip. Nach Jahren des Ringens ist es endlich soweit. Die Brexiteers haben ihr Land am 31. Januar aus den vermeintlichen Fängen Brüssels befreit: „Rule Britannia!“ Seither verstreicht eine elfmonatige Übergangsfrist, während der das Vereinigte Königreich in der europäischen Zollunion sowie im Binnenmarkt bleibt und mit der EU - wieder einmal - über ein zukünftiges Handelsabkommen verhandelt.
Insofern hat sich - der Euphorie der Brexiteers zum Trotz - wenig geändert: Solche Übergangsfristen gab es schließlich zahlreiche, seitdem Großbritannien im März 2017 erstmals den Austritt beantragt hat. Wenn Boris Johnson, der britische Premier, von „einem Moment echter Erneuerung“ spricht, ist das angesichts dessen, dass die einzige Neuerung erstmal darin liegt, dass Großbritannien sein Mitbestimmungsrecht verliert, schlichtweg irrwitzig.
Es wäre jedoch zu kurz gegriffen anzunehmen, der vorgezogene Brexit sei nur eine Art „Publicity Stunt“ - ein sinnloser Appetithappen, den Boris seinen lechzenden Brexiteers zuwirft. Johnson hat mit seiner Entscheidung, vorzeitig aus der EU auszuscheiden, Europa vor vollendete Tatsachen gestellt und die unbedarfte Hoffnung der Remainer auf ein zweites Referendum endgültig zerschlagen. Seine Anhänger*innen rechnen ihm das hoch an. Gleichwohl bleibt die Frage, welche zukünftigen Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien realistisch sind und welche Konsequenzen Europa aus dem Bruch ziehen muss.
Zeit reicht nicht für Einigung, sagen Expert*innen
Der europäische Verhandlungsführer Michel Barnier hat den Brit*innen ein Freihandelsabkommen zum Nulltarif angeboten, dem Johnson aber unter keinen Umständen zustimmen will. Voraussetzung dafür wäre nämlich eine fortwährende Rechtsprechungsgewalt des europäischen Gerichtshofes, die britische Einhaltung von EU-Vorschriften zu staatlichen Beihilfen, Umwelt- und Beschäftigungsstandards und der europäische Zugang zu britischen Fischgewässern. Insbesondere letztere Bedingung wäre für Johnson bereits aus innenpolitischen Gründen a bitter pill to swallow, war doch die Kontrolle über Fischgründe eines der Hauptverkaufsargumente seiner ungenierten VoteLeave-Kampagne. Johnson will daher vielmehr ein Abkommen nach kanadischem Vorbild: ohne jegliche Binnenmarkregeln.
Der britische Premier bugsiert die EU vermutlich nach altbewährtem Gameplay mit unannehmbaren Vorschlägen durch die kommenden elf Monate: Nur so kann er dem Druck der Brexit-Hardliner standhalten. Expert*innen gehen im Übrigen nicht davon aus, dass es den Parteien gelingt, sich innerhalb von elf Monaten einig zu werden. Am Ende der Frist wird das Unterhaus wohl erneut über einen Fristverlängerungsantrag entscheiden, um Land und Leute vor den Grauen eines No-Deal-Brexits zu bewahren. Kommt es dazu, wäre das eine Steilvorlage für Farage und seine Brexit-Party: Populismus lebt schließlich davon, die Wähler*innen glauben zu machen, sie würden von Dritten verraten und verkauft.
Es ist daher auch unwahrscheinlich, dass das Unterhaus für eine Fristverlängerung stimmen wird. Zu sehr fürchtet die Tory-Mehrheit den Groll der Parteibasis: Johnson hat überdies immer wieder erklärt, dass er unter keinen Umständen einer weiteren Fristverlängerung zustimmen werde. Ihm zufolge wäre ein No-Deal-Brexit für das Königreich ohnehin nicht besonders schlimm.
Den Brexit nutzen, um Europa wachzurütteln
Der Westen befindet sich in der schwersten Krise seit den Tiefen des zweiten Weltkrieges. Und der Aufbau eines politischen Kerneuropas ist spätestens jetzt unabkömmlich. Linke und liberale Parteien Europas sollten den Brexit nutzen, um ihre Landsleute wachzurütteln. Deutschland muss unbedingt begreifen, dass eine politische Union ohne Transferunion nicht realisierbar ist: Die Forderungen des französischen Präsidenten Emmanuel Macrons nach einem Eurozonen-Budget und einem europäischen Finanzministerium sollten deshalb im nächsten Bundestagswahlkampf Schwerpunkt proeuropäischer Parteien sein. Anstatt allein mit moralistischer Rhetorik gegen die Wortführer der Neuen Rechten zu dreschen, sollten Politiker*innen der Mitte begreifen, dass sie endlich gleichermaßen Antworten auf die europäische Krise geben müssen, die schließlich eine Identitätskrise ist.
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