Solang’ ich meine Zukunft hab – ein Porträt

Eine europäische Migrationsgeschichte

, von  Maxim Landau

Solang' ich meine Zukunft hab – ein Porträt
Ein Bild von Traute Wierbitskas: Die Dorfgemeinschaft von Wabbeln in den 1940er Jahren. Der Ort heißt heute Vabalai (Šilutė) und liegt im heutigen Litauen. © treffpunkteuropa

Traute Wierbitskas hat eine europäische Kriegs- und Nachkriegsbiografie. In Zeiten neuer Flucht- und Migrationswellen erinnert uns Europäer ihre Geschichte an unsere Verantwortung in der Welt - und wie wenig selbstverständlich es ist, dass wir in einem friedlichen Europa ohne Grenzen leben.

Sie kann nicht stillstehen. „Wenn ich schon nicht ausgehen kann… muss wenigstens hier gehen.” So läuft sie mit winzig kleinen Schritten von der Anrichte am Bauernschrank vorbei bis hin zum Esstisch und wieder zurück. Hin und her. Ihren Pingpong-Lauf vollzieht sie in einer kleinen Wohnung. Küche, Wohn- und Schlafzimmer in einem. Die Regale – früher vollgestopft mit Reliquien aus vergilbten Zeiten – sind bereits halb leer geräumt. Sie löffelt Suppe aus einer Schüssel von der Größe einer Kaffeetasse. Das Altenheim wartet auf der anderen Straßenseite. Traute Wierbitskas* ist eine Frau, die langsam verschwindet.

„Die Russen waren in der Nähe. Es war die höchste Zeit. Wir mussten fliehen.” Sie erzählt ohne Umschweife von der Kriegsnacht. Der Nacht, in der die Russen ihr Dorf Wabbeln Kreis Heydekrug im damaligen Ostpreußen einnahmen. Der Krieg klopft nicht an die Tür und bittet um Einlass. Er zerschmettert das Holz und steht im Hausflur, bohrt den Schwarzpulvergeruch in die Nasenlöcher, zerbombt das Trommelfell. Fort. Weg von den Eindringlingen, doch alle Brücken hinaus waren gefallen im Moorland. Wohin sollten sie gehen? Sie mussten zurück in ihr Haus. Die Russen hatten sich bereits eingenistet und verschlangen ihr Essen, schossen auf das Bild von Hitler an der Wand. „Unter Hitler war alles gut gewesen”, sagt sie, „Wir haben ihn ja nie gesehen.” Seltsam war der gelegentliche Hitlergruß, aber „wir Kinder haben ja nicht verstanden”. Was hatte der Krieg auch verloren in einem Bauerndorf an der Grenze zu Litauen?

Hier im Memelgebiet, wo sie seit 1932 schon gelebt hatte. Zuerst als Litauerin, später dann als Deutsche. Wo feiste Fische aus dem Fluss sprangen, die Beeren üppig im Wald hinter dem Haus wuchsen. Die Nazis kauften ihre Kartoffeln für einen guten Preis. Schule, die Hausarbeit und Freunde waren wichtig. „Heute ist jeder nur mit sich selbst beschäftigt. Aber damals hatten wir Zeit. Viel Zeit.” „Der Russe hat genommen”. Ihre Stimme ist kalt und präzise, darauf bedacht, kein Detail auszulassen. Sie seufzt kaum, als sie davon erzählt, wie sie beinahe erschossen worden wäre, als die Russen sie – zwölf Jahre alt, vollbepackt mit Kartoffeln - für eine Spionin hielten. Sie schluchzt kaum merkbar, während sie beschreibt, wie sie mit ihrer Familie im Hausflur auf der Suche nach Weltflucht auf und ab lief, während es draußen Bomben schüttete. „Wir wussten nicht wohin.” Die Russen stahlen unseren Schmuck. Die Russen drohten, Kinder im Brunnen zu ertränken. Die Russen, Russen, Russen. Mancher Dinge Schrecken kann nicht ohne Echo verhallen. Nur als sie in einem Moment versinkt – „wir standen auf dem Feld; da kam der Postbote und überbrachte die Nachricht” - laufen die Tränen. Ihr Bruder war gefallen.

Heute schluchzt sie über die Sonntage, die sie alleine verbringt, die Krankheiten des Alters. Sie verfolgt der Duschgang, bei dem eine Vene aufriss und sie fast verbluten ließ, wenn sie noch länger in der Wohnung auf und ab gelaufen wäre. „Ich weiß nicht mehr, wonach ich gesucht habe.” Sie stöhnt und seufzt wie ein aus der Übung gekommener Läufer nach einem Marathon. Alles ist schlecht, nichts macht Freude. Sie weiß nicht, was sie vom Leben noch erwarten soll. Welche Kraft, welcher Motor konnte sie damals über die Abgründe des Krieges hinweggetragen haben? „Die Ausbildung, die Heirat, ein eigenes Haus.” Sie fürchtete den Tod nicht. Zu hell strahlte die Zukunft in ihr. Irgendwie musste es weitergehen.

Und es ging weiter. Lag Wabbeln erst fest in sowjetischer Hand, wurden Bibliotheken und Jugendtreffs gebaut – das Leben ging den gewohnten Gang, wenn auch aus Angst vor den Russen niemand mehr Deutsch sprach. Unterrichtet wurde Litauisch. Traute zeigt auf ein Bild. Junge Birkenäste tasten wie Fühler nach der Sonne am Wegesrand. Märchenhaft steht sie zwischen ihren Freunden im selbst genähten weißen Kleid auf einer Lichtung und singt Lieder zum Klang von Klavier und Viola. Das ist ihr Zuhause. Es wird immer Zuhause sein.

Doch sie blieb nicht stehen. Als Adenauer ab 1955 Kriegsgefangene der Sowjetunion zur Heimkehr aufforderte, folgte sie 1960 dem Strom mit ihrem Mann. Jeder tat das. Man wollte es besser haben und die Heimat, in der so viel geschehen war, ruhen lassen. Sie blickten nie mehr zurück. In Deutschland wurden sie sehnsüchtig erwartet, denn sie brachten Kinder mit sich. Neue Deutsche. Bald fanden sie Arbeit, einen Wohnsitz, eine Heimat.

Jetzt ist sie hier. Krank, allein und alt. Wenn sie heute hin und her läuft, dann fliegen draußen wieder die Bomben. Sie fliegen in Syrien. Sie fliegen in den Talkshows und auf der Straße. Traute versteht als einst Geflohene, warum so viele Menschen nach Europa fliehen, aber sie findet es schrecklich, dass sie es müssen. Unzählige Menschen nehmen tausende Kilometer auf sich, überqueren Wasser, die zu ihrem Grab werden. Und sie laufen. In ihrem Motor: ein Brennstoff, der Hoffnung heißt. Die feste Zuversicht, dass es weitergehen wird. Doch Hoffnung wird schnell zu Frustration, wenn die Wünsche nicht zur Realität werden. So ist es umso schmerzhafter, wenn durch falsche Versprechen - im Netz oder von Schleppern verbreitet - utopische Luftschlösser in den Himmel gewuchtet werden, die bald am harten Stachel der Realität zerschellen. Wichtig ist, dass die grundlegenden Hoffnungen real werden. Die Menschen brauchen eine sinnvolle Tätigkeit, die sie vorm Stillstand bewahrt. Sie brauchen einen Wohnsitz, eine Heimat, eine Zukunft.

„Nimm dich in Acht vor die Ausländer”, mahnt Traute heute in ihrem gebrochenen Deutsch, „Bei uns war anders. Heute ist gefährlich.” Ihrem Motor ist der Kraftstoff, die Aussicht auf eine Zukunft ausgegangen. Und dennoch läuft sie. Ping. Pong. Und man fragt sich, in welche Zukunft ihre Füße sie wohl tragen.

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