Souveränität kann nur noch europäisch sein

, von  Arnaud Bergero, Hélène Timoshkin , übersetzt von Lydia Haupt

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Souveränität kann nur noch europäisch sein

Insbesondere in Wahlkampfzeiten ist der Begriff Souveränität in der öffentlichen Debatte omnipräsent. Dahinter steckt der Wunsch der europäischen Bevölkerungen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Die Antwort auf dieses Streben kann im Angesicht der globalen Herausforderungen nur eine europäische sein.

Nationale Souveränität als ein durch den Westfälischen Frieden im 17. Jahrhundert geprägtes Konzept fügt sich kaum noch in die Realität des 21. Jahrhunderts. Die Globalisierung schafft nicht nur ständig neue Verflechtungen und lässt Grenzen durchlässig werden, sie stellt vielmehr die Idee des Nationalstaats an sich in Frage. Energiepolitische Entscheidungen der chinesischen Regierung, Bankenrettung durch die Fed oder der Umgang mit Migration in Europa: all das hat internationale Auswirkungen.

Auf dem Weg zu einer europäischen Souveränität

Die Welt im 21. Jahrhundert ist stark vernetzt, internationale Wechselwirkungen sind zahllos. Für die Ausübung von Souveränität, definiert als Fähigkeit, die eigenen Interessen effektiv durchzusetzen, zählt zunehmend der internationale Einfluss eines Landes. Jedoch hat kein europäischer Staat einen Anteil von mehr als 5% am weltweiten Bruttoinlandsprodukt. Für die EU als Ganze sieht das anders aus, gemessen am BIP ist die Union mit 26% die größte Wirtschaft weltweit, gefolgt von den USA mit 25% und China mit lediglich 16%. Die Union verleiht den Mitgliedsstaaten eine de facto Souveränität gegenüber den anderen Weltmächten. Dass die EU-Bürgerinnen und Bürger global betrachtet mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede haben, macht diesen Zusammenschluss umso sinnvoller.

In einem darf man sich aber nicht täuschen: Souveränität ist kein Ziel per se, was es in der Vergangenheit vielleicht war, als Politik vor allem der Stärkung von Monarchien diente. In unseren Demokratien ist es prioritär die Aufgabe einer souveränen Regierung, die Interessen des Volkes, durch welches sie legitimiert wurde, zu schützen. An erster Stelle stehen dabei Sicherheit, Wohlstand und Freiheit. Diese modernen Interessen bedürfen europäischer Koordinierung. Gleichzeitig reduzieren globale Herausforderungen absolute nationale Souveränität zu reiner Fiktion.

Ein starkes Europa der Sicherheit, Wohlstand und Freiheit

Nur ein starkes Europa kann die Sicherheit seiner Staatsangehörigen garantieren. Die EU hat die Beziehungen ihrer Mitgliedsstaaten dahingehend verändert, dass Streitfragen friedlich ausgetragen werden, im Rahmen gemeinsamer Institutionen. Darüber hinaus hat die Bedeutung von territorialen Konflikten abgenommen. Bedrohungen wie Terrorismus und organisiertes Verbrechen, die heute im Vordergrund stehen, sind ein weltweites Phänomen. Was in Asien oder im mittleren Osten passiert, kann eine Bedrohung für die Länder Europas und ihre Staatsangehörigen darstellen. Die Verteidigung findet nicht mehr auf dem eigenen Territorium statt, sondern entweder im Ausland oder auch online. Um Konflikten vorzubeugen und die Sicherheit der europäischen Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten, ist ein gemeinsames Vorgehen mit ausreichenden finanziellen Ressourcen nötig. Eine Zusammenarbeit der EU-Staaten ist dafür unerlässlich.

Das Gleiche gilt für Wohlstand und wirtschaftliche Entwicklung. Ein Beispiel: Während als Reaktion auf die letzte Finanzkrise von der EZB 1000 Mrd. EUR bereitgestellt wurden, fielen die nationalen Konjunkturprogramme wesentlich geringer aus (in Frankreich zum Beispiel standen von 2008-2010 dafür 34 Mrd. EUR zur Verfügung). Darüber hinaus ist die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen auf den globalen Märkten direkt abhängig vom Grad der wirtschaftlichen Integration der europäischen Staaten. Bringt ein amerikanisches oder ein chinesisches Unternehmen ein neues Produkt auf den Markt, steht zum Absatz unmittelbar ein großer Binnenmarkt offen. Das ist für europäische Unternehmen keineswegs automatisch der Fall, denn ohne eine normative und regulatorische Integration sind deren Absatzkanäle beschränkt. Nicht zuletzt muss auch bedacht werden, dass Wohlstand nur durch eine nachhaltige Entwicklung gesichert werden kann. Umfassende Investitionen sind gegenwärtig nötig, um Produktionsabläufe umzustellen und sowohl Unternehmen als auch die Gesellschaft als Ganzes auf umweltverträglicheres Wachstum einzustellen. Diesen Strukturwandel kann kein europäisches Land allein vollziehen.

Individuelle Freiheit schließlich ist einer der Gründungswerte einer Union, die eingegangen wurde, um Barbarei und Willkür etwas entgegenzusetzen. Ihre Geschichte ist die einer Versöhnung nach vielen konfliktreichen Jahrhunderten, die geprägt waren durch Religionskriege, Kolonialisierung sowie zwei Weltkriege. Das Europa der Gegenwart verkörpert die beiden Grundwerte Freiheit und Solidarität zwischen den Völkern, und zwar nicht nur in den Augen der Europäerinnen und Europäer, sondern weltweit. Um für diese Werte auch weltweit einzutreten, ist es unsere Aufgabe, laut und deutlich mit einer gemeinsamen Stimme zu sprechen.

Für ein stärker integriertes Europa

In einer komplexen und multipolaren Welt müssen sich die europäischen Staaten mehr denn je auf eine gemeinsame Strategie einigen, anstatt als Reaktion auf Krisen wie den Brexit oder den Anstieg der Migration taktische Züge aneinanderzureihen. Denn wenn nach Sunzi, einem chinesischen Militärstrategen des 6. Jh. v. Chr., „eine Strategie ohne Taktik der langsamste Weg zum Sieg ist, so ist eine Taktik ohne Strategie die lautstarke Ankündigung der Niederlage“. Um Fortschritte zu erreichen, führt kein Weg um eine gemeinsame europäische Strategie im Rahmen einer stärker integrierten Union herum.

Wir glauben, dass dies am besten umgesetzt werden kann, indem einige Staaten beispielhaft vorangehen. Mitgliedsländer, die von der Notwendigkeit einer tieferen Integration überzeugt sind, bilden dabei ein „Kerneuropa“, welches Kraft seines Erfolgs nach und nach auch integrationskritischere Staaten einbinden könnte. Eins muss allerdings klar sein: einfach wird dieser Prozess nicht. Es wird nötig sein, auf individueller Ebene Kompromisse zu schließen, um die gemeinsamen Ziele zu erreichen. Diese stärker integrierte Europäische Union wird dabei das, was die Nation im 19. Jahrhundert war: ein alltäglicher Volksentscheid.

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