Szenario 6: Wir holen uns die Zukunft der EU zurück!

, von  Christoph Schneider

Szenario 6: Wir holen uns die Zukunft der EU zurück!
Mehrere 10.000 Menschen nehmen in Europa jede Woche an Pulse of Europe teil. Hier Bilder aus Frankfurt. © duodecim stellae, zur Verfügung gestellt für treffpunkteuropa.de

Was denkt ein Mitglied der aktiven europäischen Zivilgesellschaft über 60 Jahre Römische Verträge und über die Debatte um Europas Zukunft? Christoph Schneider ist Vertreter dieser Gesellschaft als Aktivist von DiEM25 und Mitorganisator von #PulseofEurope Karlsruhe.

60 Jahre nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge ist die Debatte in der EU über die Zukunft wieder sehr präsent, da den Staats- und Regierungschefs und ihren Partnern in Brüssel mehr und mehr dämmert, dass dem „Weiter So!“ das Fundament fehlt. Allerdings lässt sich mit Jean-Claude Junckers fünf Szenarien kaum eine bessere Zukunft für die EU gestalten: „Weiter so wie bisher,“ „Schwerpunkt Binnenmarkt,“ „Wer mehr will, tut mehr,“ „Weniger, aber effizienter,“ „Viel mehr gemeinsames Handeln“. Bei genauem Hinsehen sind das eigentlich gar keine Beschreibungen der Zukunft, sondern vielmehr Beschreibungen, wie sich die EU und ihre Mitgliedsstaaten bei unterschiedlichen Problemen bisher schon verhalten haben. Wer wie viel, wie effizient und mit wem in der EU macht, ist doch eh schon eine ständige Frage von Aushandlungen. Eine positive Zukunftsvorstellung im starken Sinne, die eine bessere und neue EU in Aussicht stellt, ist in diesen Szenarien nirgends zu entdecken. Das allerdings ist ein riesiges Problem. Denn wie soll es die EU eigentlich aus ihren vielen Krisen heraus schaffen, wenn sie keine Vision davon hat, wie sie den europäischen Bürgerinnen und Bürgern im 21. Jahrhundert in Zukunft ein besseres Leben ermöglichen kann? Es ist daher Zeit für Szenario 6: Eine demokratische Zukunft der EU, die durch die europäischen Bürgerinnen und Bürger mitgestaltet wird. Zum Glück erwacht die europäische Zivilgesellschaft und stellt sich wieder ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung, etwa durch das Democracy in Europe Movement 2025 (DiEM25) oder die Kundgebungen von #PulseofEurope.

Statt Hoffnung trägt die EU derzeit ein Katastrophenszenario mit sich herum. Seit 2008 hat sie auch selbst verschuldet viel für die neue Stärke des Nationalismus getan. Für diese Problemdiagnose hilft ein Blick in die Geschichte, die uns zeigt, dass zwei Seelen in der Brust der EU schlagen. Zum einen ist da die EU der Montanunion und dann der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Das ist die EU des europäischen Kapitalismus, aus der mit dessen Wandel gewissermaßen eine Bankenunion geworden ist. Die EU als Wirtschaftsprojekt dominiert zwar das Denken vieler europäischer Politiker, ist allerdings zukunftslos und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Statt einer Vision steckt darin nur noch die Mahnung zum Erhalt des erreichten Binnenmarkts. Letztes Jahr sollte der Brexit abgewendet werden mit Drohungen darüber, wie schlecht der Verlust des Zugangs zum EU Markt für Großbritannien wäre – wie wir wissen erfolglos.

Es gibt aber auch den zweiten Herzschlag der EU: Europa als Menschenprojekt, als Projekt der Entwicklung der Einzelnen und als Projekt der Entwicklung des Gemeinwesens, ein großes Experiment im vielfältigen Zusammenleben in Frieden und geteilter Verantwortung füreinander: ein Aufbruch in eine bessere Zivilisation. Hier rein gehören Aufklärung und Menschenrechte und natürlich die Menschen die sich und ihr Zusammenleben als Teil Europas verstehen. Europa als Menschenprojekt ist das Europa der gelebten Integration und der Demokratie. In Junckers fünf Szenarien liest man davon kaum etwas – es ist daher höchste Zeit, dass wir, die Bürgerinnen und Bürger Europas, uns das zurück holen und die Zukunft der EU gleich mit!

Wir brauchen neue Visionen für Europa und für die EU und es ist gut, dass viele Menschen in Europa schon vor Juncker angefangen haben, diese zu schaffen. Wir sollten Juncker aber zumindest in einem Punkt ernst nehmen: Beginnen wir – und damit meine ich uns alle und nicht nur unsere Politiker – den Dialog über die Zukunft Europas! Lasst uns über die Zukunft Europas streiten, aber mit einem Wettstreit an positiven Visionen, wie Europa in Zukunft aussehen sollte. Es ist fantastisch, und das gibt mir Hoffnung, dass sich gerade Europas Zivilgesellschaft auf den Weg macht, Europa neu zu erfinden und das mit ganz unterschiedlichen Ansätzen. Zwei davon, in denen ich mich selbst engagiere möchte ich kurz vorstellen.

Seit Januar diesen Jahres schlägt mein Herz als Teil der #PulseofEurope (www.pulseofeurope.eu) Kundgebungen, die ich in Karlsruhe mit organisiere. Im Rahmen dieser Veranstaltungen gehen in vielen europäischen Städten Menschen auf die Straße, um zu zeigen, dass ihnen ein geeintes Europa wichtig ist. Jetzt im März waren es an den Sonntagen mehrere Zehntausend. Durch #PulseofEurope setzen sie gemeinsam das wichtige öffentliche Zeichen, dass ein geeintes und demokratisches Europa vielen Menschen ein Herzensanliegen ist. Schon seit Frühjahr letzten Jahres bin ich aktiv im Democracy in Europe Movement 2025 (www.diem25.org) welches einen grundlegenderen Ansatz hat: Europaweit vernetzen sich überparteilich schon mehr als 50.000 demokratisch gesinnte Menschen, um gemeinsam neue Konzepte für eine progressive europäische Politik zu entwerfen, die Europa so dringend benötigt. Bei DiEM25 arbeiten wir demokratisch und öffentlich an Vorschlägen, wie die EU in den Bereichen Wirtschaft, Transparenz, Arbeit, Nachhaltigkeit, Migration und Flüchtlinge und einer europäischen Verfassung demokratisiert werden könnte. Dabei geht es auch darum, wie lokale, regionale, nationale und europäische Formen von Demokratie sich besser ergänzen können. Das ist das Experiment mit dem großen Wurf, was mir richtig Freude bereitet. Klar gibt es Unterschiede zwischen diesen zivilgesellschaftlichen Initiativen aber das finde ich gar nicht schlimm – das ist sogar gut, wenn wir die Zukunft Europas wieder als gestaltbar entdecken wollen. Aus beiden Initiativen habe ich gelernt, dass wir alle etwas bewegen können. Es ist auch gar nicht schwer; man muss sich nur trauen, mitzumachen.

Wenn wir, als Mitglieder der europäischen Zivilgesellschaft weiterwachsen und erkennen, dass eine Zukunft Europas nicht nur eine Zukunft Brüssels heißt, dann lernen wir auch, dass wir gemeinsam Europa sind. Wir haben mittlerweile die Mittel und auch die engagierten Menschen, um Demokratisierungsbestrebungen auf lokaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene zu verbinden – wir können eine große demokratische Transformation unseres Gemeinwesens beginnen. „Let‘s take our European future back!“, könnte unsere Maxime lauten. Europa ist eines der wichtigsten gesellschaftlichen Projekte, das aus den Verwerfungen des 20. Jahrhunderts hervorgegangen ist. Es ist allerdings noch unfertig. Gestalten wir es für die nächsten 60 Jahre weiter als ein Europa der Menschen.

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