Sommer 2019: Ein Brexit-Hardliner wird Premierminister
Die irische Grenze, das war also das Problem, das den Deal verhinderte. Hatte man vielleicht den Eindruck gehabt, der irische Frieden sei zeitweise nur politisches Druckmittel für die Verhandlungen gewesen, so zeigten mittlerweile sehr reale Spannungen vor Ort die Relevanz der Thematik. Schon im Januar 2019 hatte es in Nordirland eine Explosion gegeben, für die vermutlich die „neue IRA“ verantwortlich war. Im April, kurz nach der Verschiebung des Brexits, wurde in Derry eine Journalistin erschossen. Für die Bevölkerung dort beängstigend, niemand von ihnen wollte wirklich eine harte Grenze, die Angst vor einer erneuten gewaltvollen Eskalation wuchs. Im August gab es einen weiteren Anschlag, als die Rufe nach einer Vereinigung laut wurden, um das Problem der irischen Grenze zu lösen.
Aber wer sollte die Verantwortung für Großbritanniens Zukunft tragen und den Frieden auf der irischen Insel sichern? Wer folgte nun auf May? Wer sollte den Brexit umsetzten? Am Ende standen sich zwei Kandidaten gegenüber: Jeremy Hunt, der aktuelle Außenminister, und Boris Johnson, dessen Vorgänger und Ex-Bürgermeister von London. Jeremy Hunt galt als der vernünftigere, der einen gemäßigten Kurs fahren wollte, einen Deal mit der EU vorzog, später jedoch auch einen ungeregelten Austritt in Betracht zog.
Doch es wurde Boris Johnson am 24. Juli zum neuen Premier gewählt. Er stand ein für einen Brexit um jeden Preis, voller Optimismus sollte seiner Ansicht nach Großbritannien im Oktober die EU verlassen, auch ohne Deal. Anders als May würde er nicht an den Verhandlungen mit der EU scheitern. Im Juli sagte er in einem TV Duell „ich will der EU nicht die Möglichkeit geben mit der Weigerung zu einem Abkommen meinen Rücktritt zu befördern“. Mit Johnson als neuem Prime Minister wurde der Brexit noch weiter emotionalisiert und somit die Positionen weiter radikalisiert als vorher. Je verfahrender die Situation, desto radikaler und emotionaler wurde die Debatte. Ein weicher Brexit mit Deal wurde für die Mehrheit der Tories zum BINO – Brexit in name only, einer ungültigen Version des Austritts.
Herbst 2019: Johnson – das Ende der Demokratie?
Viele kritisierten Johnsons Wahl als undemokratisch. War er wirklich ein Repräsentant des Volkes, wenn nicht das ganze Parlament den neuen Premier bestimmen konnte, sondern nur die Tories? War die Wahl demokratisch, wenn nur ein Teil der vom Volk gewählten Abgeordneten die Möglichkeiten hatte, über die Person an der Spitze zu entscheiden, die danach maßgeblich über die Zukunft aller entscheiden sollte?
Ein wirklicher Aufschrei ging jedoch durchs Land, als Johnson Ende August eine Parlamentspause anordnete. Diese veranlasste Prorogation wurde als Gefahr für die Demokratie kritisiert: Der Premier könne sich auf diesem Wege kurz vor dem Brexit über das so ausgeschaltete Parlament hinwegsetzen. In der Konsequenz wurde zu landesweiten Demonstrationen aufgerufen. „Wir sind nicht hier, um Boris freundlich zu bitten, wir wollen ihn zum Einlenken zwingen. Das bedeutet ziviler Ungehorsam und die Bereitschaft für Behinderungen zu sorgen“, so sagte die Webseite der Organisatoren. Johnson aber wies die Vorwürfe, undemokratisch zu handeln, zurück.
Dieses Vorgehen lies das Spektakel auf der britischen Insel in den vergangen Wochen zu einer Art „Polit-Thriller“ werden. Plötzlich passierte viel auf einmal: Die Abgeordneten erhoben Anklage, ein Gerichtsurteil aus London gab Johnson aber Recht. Im Eilverfahren wurde die Pause für rechtmäßig erklärt. In einer folgenden Parlamentssitzung verlor der Premier seine Mehrheit im Unterhaus, als ein Abgeordneter die Conservative Party verließ und zu den Liberal Democrats überlief. 21 weitere folgten ihm, teils unfreiwillig, da sie der Partei verwiesen wurden. In letzter Minute, kurz vor der sechswöchigen Beurlaubung, konnte das Unterhaus ein Anti-No-Deal Gesetz verabschieden. Dieses sagte folgendes; sollte Großbritannien bis zum 31. Oktober den Deal nicht angenommen haben, so müsste der Brexit auf den 31. Januar 2020 verschoben werden. Laut eigener Aussage wollte Johnson aber „eher tot im Graben liegen“ als den Brexit ein weiteres Mal zu verschieben.
Doch die Abgeordneten durften am 26. September in das Unterhaus zurückkehren. Nachdem ein schottisches Gericht dem Londoner Gericht widersprochen hatte, wurde das Problem vor den Supreme Court getragen. „The prorogation was also void and of no effect, parliament has not been prorogued“ verkündete es. In Kürze, die angeordnete Zwangspause war rechtswidrig. Daraufhin forderte die Labour Party vehement Johnsons Rücktritt.
Heute: Wir blicken gespannt auf den 31. Oktober
Aber Johnson wird nicht freiwillig gehen. Nur - kann er aus dem Amt gestürzt werden? Im ersten Amtsjahr des neuen Premier ist dieser geschützt gegen ein Misstrauensvotum. Und wenn er geht – wer sollte auf ihn folgen? Mit ihm würde der dritte britische Premier wegen des Brexits zurücktreten.
Die britische Demokratie hat sich gegen sich selbst ausgespielt. Emotional-nostalgischer Nationalismus führte zu einer Spaltung des Landes, die die Beteiligten in der Politik im Laufe der Zeit immer weiter vertieften. Statt Klarheit durch ein eindeutiges Ergebnis im Referendum hängt das Land seit Beginn der Debatte über den Brexit bis jetzt in einem fortlaufenden Zustand der Ungewissheit, die die Unternehmer zittern lässt und die Bevölkerung entweder ermüdet oder radikalisiert. Wie kann das Zerwürfnis in der Regierung überwunden werden? Wird es den Brexit jemals geben?
Die Eagles singen in Hotel California „You can check-out any time you like, but you can never leave!“, und vielleicht beschreibt das die aktuellen britischen Beziehungen zur EU am besten. Wir blicken gespannt auf den 31. Oktober.
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