Tsipras und das Referendum: Flucht aus der Verantwortung

Kolumne „Europa im Blick“

, von  Marcel Wollscheid

Tsipras und das Referendum: Flucht aus der Verantwortung
Das Hilfspaket und die damit verbundenen Bedingungen demütigten das griechische Volk und bedürften daher einer demokratischen Antwort, begründet der griechische Ministerpräsident das kommende Referendum. Foto: © Martin Schulz - EP President / Flickr / CC BY-NC-ND 2.0 Lizenz

Sympathisch war es, wie es dem Underdog Syriza in der Wahlnacht im Januar gelang, das verkrustete Parteiensystem in Griechenland aufzubrechen. Mit dem jungen, unverbrauchten Alexis Tsipras kehrte ein Ministerpräsident mit dem Versprechen auf Erneuerung ein. Nun, sechs Monate später, ist jeder Vorschuss verflogen. Nach einem quälenden Verhandlungspoker, den Syriza selbst in der Hoffnung auf Gewinne bis zur letzten Sekunde verschleppte, stiehlt sich Tsipras nun mit der Ankündigung eines Referendums aus seiner politischen Verantwortung. Eine Entscheidung, die fatale Folgen für Griechenland und die Europäische Union haben könnte.

Spiegel-Kolumnist Georg Diez rät Politikern und Journalistenkollegen in seiner letzten Kolumne, den Begriff „Rettung“ für Griechenland nicht mehr zu gebrauchen. „Mit einem Wort werden Schuld und Abhängigkeit hergestellt, mit einem Wort werden Dankbarkeit und Versagen festgelegt, mit einem Wort wird moralisch gerichtet“. Rettung, so Diez, sei „deshalb ein Wort, das im Politischen an sich oder im politischen Journalismus als solchem nichts verloren hat“. Es ist guter Brauch unter linken Kulturkritikern, Worte, die ihnen politisch nicht passen, zum Tabu zu erklären. Wenn wir Diez jedoch ernst nehmen, wie verhält es sich dann mit dem Begriff der „Demütigung“ des griechischen Volkes durch die Gläubiger, ein fester Bestandteil im rhetorischen Repertoire von Alexis Tsipras und Yanis Varoufakis. „Mit einem Wort werden Schuld und Abhängigkeit hergestellt, mit einem Wort werden Dankbarkeit und Versagen festgelegt, mit einem Wort wird moralisch gerichtet“. Nicht wahr?

All diese Wortspiele ändern nichts an der Realität. Griechenland erhält auf den Finanzmärkten kein Geld mehr. Kein Unternehmer will derzeit seine Mittel in Hellas investieren. Die griechische Wirtschaft ist durch relativ hohe Löhne bei niedriger Produktivität nicht wettbewerbsfähig. Ein Viertel der Beschäftigten in Griechenland ist im öffentlichen Dienst tätig. Dies sind die Gründe der „Austerität“. Die europäischen Partner bewahren Griechenland mit Hilfsprogrammen und Bürgschaften im dreistelligen Milliardenbereich vor der Zahlungsunfähigkeit. Die Europäische Zentralbank hält das griechische Bankensystem mit Notfallliquidität am Leben.

Wenn sich die griechische Regierung nicht zu einer fundamentalen Modernisierung des Staates und der Wirtschaft bekennt, ist eine griechische Mitgliedschaft in der Eurozone nicht mehr möglich. Hierin liegt das Kernproblem der stockenden Verhandlungen. Dass Alexis Tsipras nun ein Referendum zum Hilfs- und Reformpaket für den 5. Juli ankündigt, ist der Versuch, diesen harten Realitäten zu entfliehen. In einem Punkt behält Georg Diez Recht: Rettung und Demut sind letztlich keine Kategorien, um politische Entscheidungen wie diese zu bewerten.

Max Weber hat in „Politik als Beruf“ den Begriff der „Verantwortungsethik“ geprägt. Gegenüber der „Gesinnungsethik“, die auf die Überzeugung und die sittliche Reinheit hinter einer Entscheidung abzielt, stellt die Verantwortungsethik den Politiker vor die Frage: Sind die Folgen meines Handels vertretbar? Nach Weber zeichnet es einen guten Politiker aus, eine Balance zwischen Verantwortungsethik und Gesinnungsethik zu finden.

Ein Referendum zum Hilfspaket mag aus gesinnungsethischer Sicht angebracht sein. Es ist ein demokratischer Akt, der den Griechen endlich die Würde des selbstbestimmten Handelns zurückgibt. Doch welche Verantwortungsethik offenbart sich, wenn wir die Konsequenzen der Entscheidung bedenken? Ohne Einigung mit den Geldgebern ist Griechenland mit dem Auslaufen des zweiten Hilfspakets am 30. Juni zahlungsunfähig. Das Land müsste zwangsweise eine neue Währung einführen, um seine laufenden Ausgaben zu bedienen. Die griechische Regierung spekuliert, dass die Gläubiger entgegen aller bisherigen Vereinbarungen eine Verlängerung des Hilfspakets gewähren. Tsipras wird nach eigener Ankündigung einen Vorschlag zur Wahl stellen, den er selbst ablehnt. Das Szenario eines Graccident oder Grexit scheint unter diesen Bedingungen greifbar nahe - am 5. Juli könnte es für Griechenland bereits keine Wahl mehr geben.

Stellen wir uns für einen Moment vor, die Bundesregierung würde überraschend ein Referendum über die Auszahlung weiterer Hilfskredite an Griechenland am Montag ansetzen und sogar für ein „Nein“ werben. Niemand würde bezweifeln, dass dies eine demokratische Entscheidung ist. Trotz alledem wäre es in der derzeitigen aufgeheizten Stimmung eine verantwortungslose Handlung, die den europäischen Zusammenhalt aufkündigen würde.

Womöglich wird Alexis Tsipras mit seinem Manöver Griechenland endgültig in den Staatsbankrott führen. Am Tag nach der Ankündigung des Referendums bildeten sich vor Banken in Athen lange Schlangen. Die Konsequenzen für elf Millionen Griechen und den gesamten Kontinent sind ungewiss.

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