Umfragen: Das Ende der europäischen Sozialdemokratie?

, von  Tobias Gerhard Schminke

Umfragen: Das Ende der europäischen Sozialdemokratie?
Die irischen Sozialdemokraten (Labour) liegen in Umfragen bei weniger als zehn Prozent. © William Murphy / (CC BY-SA 2.0) / Flickr

So sehr sich die sozialdemokratischen Parteien in Europa auch abmühen, die Wähler finden nicht mehr zurück zu den klassischen Arbeiterparteien. Hoffnungsträger wie Jeremy Corbyn oder auch François Hollande werden binnen weniger Jahren verbraucht. Was sind die Hintergründe dieser Entwicklung?

Das Köpferollen sozialdemokratischer Charismatiker hat es nicht vermocht, neue Wähler wieder an die Parteien der linken Mitte zu binden. Im Gegenteil: In vielen Ländern droht den Sozialisten die Bedeutungslosigkeit.

Seit Sommer 2014 haben die Sozialdemokraten europaweit nach einem schwachen Europawahlergebnis weitere acht Prozentpunkte einbüßen müssen. 30 Prozent der Wähler der sozialdemokratischen Parteien haben in den vergangenen zweieinhalb Jahren ihren Parteien den Rücken gekehrt. Nur noch 20,5 Prozent der Europäer würden heute SPD, Parti Socialiste oder deren europäische Partnerparteien wählen.

Doch was treibt die Sozialdemokraten in den demoskopischen Abgrund? Fehlt die Message? Sind die Führungspersönlichkeiten zu blass? Es liegt wohl eher an der strategischen Ausrichtung der Ideologie. Das Problem ist struktureller Natur.

Gesellschaftliche Rolle: Vom Anti-Establishment zur Regierungskraft

Eine Erklärung für den steten Verlust an Wählern erklärt sich, wenn man die Zustimmungswerte für die Sozialdemokraten in Europa der Regierungsbeteiligung dieser Parteien gegenüberstellt. Die Sozialisten waren über Jahrzehnte die Anti-Establishment-Partei. Sie waren die, die den politisch unbedeutenden Arbeiter im Kampf gegen das Großkapital eine Stimme verlieh. Mitte des 20. Jahrhunderts nahmen die Regierungsbeteilligungen dieser Parteien nach Wahlerfolgen zu. Während dem Arbeiter von staatlicher Seite immer mehr Rechte gegenüber dem Arbeitgeber eingeräumt wurden, zog die politische Mäßigung bei den Sozialdemokraten ein. Zum Ende des 20. Jahrhunderts, nach Jahren und Jahrzehnten der zu Pragmatismus zwingenden Regierungsbeteiligung, waren die Sozialdemokraten ebenso wenig reißerisch in ihren Forderungen für Arbeiter wie Liberale oder Konservative. Die jahrelange Regierungsbeteiligung hatte die Sozialdemokraten insbesondere unter dem Eindruck der zunehmenden Globalisierung zu mehr Pragmatismus gezwungen. Viele Arbeiter nahmen diesen in Form Kurs von New Labour und der Agenda 2010 als Verrat wahr. Die Sozialdemokraten konnten ihr Handeln nicht als Notwendigkeit kommunizieren. Stattdessen tönte „Wer hat uns verraten? – Sozialdemokraten!“ durch die Straßen Ostdeutschlands und des Ruhrgebiets. Schröder, Blair und Co. waren, so das Narrativ unter den Arbeitern, bereits so lange Zeit an der Regierung, dass sie selbst Teil des Establishments geworden waren. Eine Ursache für den Abstieg der Sozialdemokratie liegt also im Wandel ihrer Rolle im System zugrunde. Eine Partei, die als Establishment wahrgenommen wird, kann aus Sicht derer, die aufgrund ihrer gesellschaftlichen Rolle das Establishment kritisieren, die Schwächeren nicht glaubhaft vertreten.

Neue gesellschaftliche Interessen: Umweltschutz, Sicherheit und Migration

Unter der Herrschaft sozialdemokratischer Parteien in den 1970er und 1980er Jahren wurde es in Europa sozial gerechter. Gesellschaftliche Teilhabe wurde ermöglicht und klassisch sozialistische Themen wie der Klassenkampf, soziale Sicherungssysteme und Arbeitnehmerrechte spielten zunehmend eine untergeordnete Rolle. Wirtschaftlich ging es den Menschen gut. Der politische Fokus in der Öffentlichkeit wanderte zu anderen Themen. Als das Meinungsforschungsinstitut Pew Research die Europäer 2016 befragte, auf welchen Bedrohungen das politische Augenmerk liegen sollte, landeten Themen wie Terrorismus und Klimawandel ganz weit oben - keine Kernthemen der Sozialdemokraten.

Many Europeans concerned about ISIS and security repercussions of refugee crisis

Bis heute spielten die vom Wähler als sozialdemokratisch wahrgenommenen Kernkompetenzen im Bereich Arbeit nie eine so bedeutsame Rolle wie in den 1970 oder 1980er Jahren. Und das hemmt die Mobilisierung von potenziell sozialdemokratischen Wählern. Die Themen, die heute bei der Wahlentscheidung eine Rolle spielen, werden als Kompetenz anderer Parteien wahrgenommen: Die Grünen punkten beim Thema Umweltschutz und Energie, die Liberalen im Bereich Bildung und Digitalisierung und die Konservativen im Bereich Sicherheit und Migration.

Wandel des Arbeitsmarktes: Arbeiter und Gewerkschaften

“Während der Anteil der Selbstständigen an allen Erwerbstätigen zwischen 1991 und 2011 leicht von 8,1 auf 11,0 Prozent zunahm, verringerte sich der Anteil der Arbeiter im selben Zeitraum von 38,9 auf 26,2 Prozent.”

Das klassische Wählerklientel, welches von Sozialdemokraten angesprochen wird, schrumpft. Der Anteil der klassischen Arbeiter an der Gesamtbevölkerung nimmt ab. Durch die damit verbundene, geringe Rolle der Gewerkschaften, die den Sozialdemokraten im 20. Jahrhundert oft als Wahlkampfhilfe zur Seite standen, wird dieser Effekt multipliziert. Die Schwäche von der S&D-Allianz liegt daher auch im gesellschaftlichen Wandel begründet.

Protektionismus und Lohngerechtigkeit: Links überholt

„Der gesetzliche Mindestlohn steigt von 8,50 Euro auf 8,84 brutto in der Stunde. Das ist wirklich ein schlechter Witz, erklärt Bernd Riexinger, Vorsitzender der Partei DIE LINKE (GUE/NGL).

Die Sozialdemokraten warben im 20. Jahrhundert mit Schutz von Arbeitern durch Protektionismus und Lohngerechtigkeit. Dies änderte sich zunehmend gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Politikwissenschaftler empfahlen den Parteien sich in der gesellschaftlichen Mitte zu positionieren. Die Sozialdemokraten, bereits damals von Wahlniederlagen getrieben, folgten diesem Ruf wie keine andere ideologische Gruppierung. Protektionismus und Handelsbarrieren verband das Präkariat nun mit rechtsgerichteten Parteien. Die Sozialdemokraten setzten dagegen infolge auf Liberalisierung der Märkte und den Abbau von Handelshindernissen. Unter dem Eindruck von Billiglohnkonkurrenz aus Fernost folgten viele Arbeiter der Traditionspartei nicht. Stattdessen wendeten sich viele der Linksparteien oder der extremen Rechten zu, die nun für Abschottung und Protektionismus standen. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der sozialdemokratischen Parteien in der südlichen Peripherie Europas, wo infolge des Rückbau des Sozialstaates infolge der Staatsschuldenkrise der 2010er Jahre sozialdemokratische Parteien buchstäblich zugunsten rechter und linker Parteien implodierten. Auf beiden Seiten des populistischen Spektrums - ganz frei von Regierungsverantwortung - wurden Forderungen gestellt, die immer ein wenig mehr für die sozial Abgehängten forderten als die Sozialdemokraten dies vermochten zu tun. Versuche dies mit linkspopulistischen Forderungen zu kontern, treibt den Realoflügel der Sozialdemokraten zu Liberalen und Christdemokraten. Ein Teufelskreis.

Reflexartige Reaktion: Köpfe rollen

“Nach dem unrühmlichen Fall von Dominique Strauss-Kahn, ist er der neue Hoffnungsträger der sozialistischen Partei Frankreichs für die Präsidenschaftswahlen 2012: François Hollande.”

Die Verluste der Sozialdemokraten sind also systemischer Natur. Dafür steht bislang keine Lösung bereit. In Panik wird in Europa der Hoffnungsträger von gestern ersetzt, sobald die Sozialdemokraten in Umfragen ins Taumeln geraten – nur um dadurch noch schneller noch weiter abzustürzen. Dies war bei Jeremy Corbyn, François Hollande und auch bei Peer Steinbrück 2013 der Fall.

Es scheint völlig offen in welcher Form die Sozialdemokratie in Europa in Zukunft überleben wird. Martin Schulz und Benoît Hamon haben in den vergangenen Tagen eine mögliche Option aufgezeigt: Hamon profiliert sich über das bedigungslose Grundeinkommen, Martin Schulz über den Kampf gegen rechts. Beide eint zudem: ein klares, pro-europäisches Profil.

Fraktionszuordnung: Parteien, die bereits im Europäischen Parlament vertreten sind, werden jeweils ihrer derzeitigen Fraktion zugerechnet. Nationale Parteien, die derzeit nicht im Europäischen Parlament vertreten sind, aber einer europäischen Partei angehören werden der Fraktion der entsprechenden europäischen Partei zugeordnet. Parteien, die nicht im Parlament vertreten sind und bei denen die Zuordnung zu einer bestimmten Fraktion unklar ist, werden als „andere“ eingeordnet. Für die Bildung einer Fraktion sind mindestens 25 Abgeordnete aus mindestens sieben Mitgliedstaaten notwendig.

Datengrundlage: Soweit verfügbar, wurde bei der Sitzberechnung für jedes Land jeweils die jüngste Umfrage oder die jüngste Sitzverteilungsprognose zu den Wahlabsichten für das Europäische Parlament herangezogen. In Ländern, wo es keine spezifischen Europawahlumfragen gibt oder wo die letzte solche Umfrage mehr als drei Wochen zurückliegt, wurde stattdessen die jüngste verfügbare Umfrage für die Wahl zum nationalen Parlament verwendet. Liegen in Mitgliedsstaaten keine seit der letzten Parlamentswahl vor, wird das Wahlergebnis der jeweiligen Wahl herangezogen. Die Sitzverteilung wird entsprechend des jeweiligen Europawahlrechts ermittelt. In Frankreich wird die aktuellste Umfrage zu den Präsidentschaftswahlen herangezogen, wenn keine andere Umfrage zu Parlaments- oder Europawahlen innerhalb der letzten drei Wochen veröffentlicht wurde.

Europa wächst mehr und mehr zusammen. Politische Phänomene wie Arbeitslosigkeit oder die Reaktion der Bürger auf ein Atomunglück wie das von Fukushima treten vermehrt in mehreren EU-Ländern zeitgleich auf. Dies wirkt sich auch auf das Wahlverhalten aus - es entsteht ein gesamteuropäisches Wahlverhalten. Deshalb macht es Sinn ein politisches Stimmungsbarometer für die EU28 zu entwerfen. Die Resultate basieren auf den Ergebnissen nationaler repräsentativer Umfragen aller EU28-Staaten. Stichtag ist jeweils der 30. Tag eines Monats. Statistisch weist dies natürlich deshalb Mängel auf, weil nicht immer Umfragen zur Europawahl, sondern nur zu nationalen Wahlen erhältlich sind. Hintergründe zu den verwendeten Umfragen erfahren Sie auf Anfrage unter tobias.schminke chez treffpunkteuropa.de.

Ihr Kommentar
  • Am 2. Februar 2017 um 12:44, von  Arthur Molt Als Antwort Umfragen: Das Ende der europäischen Sozialdemokratie?

    „Die jahrelange Regierungsbeteiligung hatte die Sozialdemokraten insbesondere unter dem Eindruck der zunehmenden Globalisierung zu mehr Pragmatismus gezwungen.“

    An Pragmatismus ist nichts auszusetzen. Der Sehnsucht nach Charismatikern ist er allemal vorzuziehen.

    Bin mir sicher, dass die Europäer die richtige Balance zwischen Persönlichkeitswahl und sorgfältigem Abwägen der Parteipositionen halten werden. Mit Blick auf die USA sollten wir uns glücklich schätzen, dass Sachentscheidungen noch nicht ganz im Wirbel der Gefühle untergehen.

    2017 wird ein spannendes Wahljahr. Die jüngsten Nominierungen wecken Hoffnung, dass sich mehr Menschen am demokratischen Prozess beteiligen.

    Das Potenzial zur Verunsicherung ist allerdings groß. Das zeigt die Umfrage zum Gefühl der Bedrohung durch ISIS - die auf den ersten Blick deplaziert wirkt. Innere Sicherheit ist ein Thema. Aber Angst ist ein schlechter Ratgeber, wie die Kanzlerin schon sagte. Und es gibt auch jede Menge andere, langweiligere Themen, wie sie auch über den Schreibtisch eines Bürgermeisters aus Würselen gegangen sind.

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