Von Geopolitik bis Gender: Eine Kommission vor dem Balanceakt

, von  Ann-Marie Rittler, Luisa Kern

Von Geopolitik bis Gender: Eine Kommission vor dem Balanceakt
Eines der Gesichter aus der neuen EU-Kommission, das sich in der EU-Politik schon einen Namen gemacht hat.
Foto: Flickr / Radikale Venstre / CC BY-NC 2.0

Sowohl aus geopolitischer Sicht als auch in der Genderbalance ausgeglichene Verhältnisse waren ein Hauptaugenmerk für Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, als sie vor etwa einem Monat ihr Team vorgestellt hat. Wie schwierig die Wahl der neuen Kommissionspräsidentin war, darüber hat Tim Odendahl schon im Juli beschrieben. Julia Bernard hat außerdem fünf Gesichter aus der neuen Kommission genauer beleuchtet. Für treffpunkteuropa.de-Autorinnen Luisa Kern und Ann-Marie Rittler stellt sich jedoch die Frage: Was, wenn diese Konstellation gar nicht arbeitsfähig ist?

Liebe Ursula von der Leyen,

die letzten Wochen waren sicherlich sehr aufregend und turbulent für Sie. Dass es von nun an auch nicht leichter wird, dessen sind Sie sich bestimmt bewusst. Es stehen große Herausforderungen an: zum einen, was die Bestätigung der Kommissar*innen betrifft, die sie für ihr Team vorgeschlagen haben, aber auch beispielsweise in Bezug auf anstehende Ereignisse wie den Brexit. Wir denken, dass es nun an der Zeit ist, ein erstes Zwischenfazit zu Ihrer vorgestellten Kommission zu ziehen.

Als Sie am 10. September 2019 Ihre Kommission vorgestellt haben, gaben Sie sich sehr überzeugend und selbstbewusst in der Pressekonferenz. Es war ebenfalls beachtlich, wie viel Zeit Sie sich für die Fragen der Journalisten genommen haben. Sie haben Optimismus und Tatendrang versprüht.

Eine Präsidentin, die keine Spitzenkandidatin war Eben weil Sie keine Spitzenkandidatin waren, wurde und wird Ihnen vorgeworfen, dass Ihnen die demokratische Legitimität fehlt. Das stimmt nur bedingt, denn sie wurden – wenn auch nur knapp – vom Europaparlament, der Vertretung aller Bürger*innen der Europäischen Union im Amt legitimiert. Sie wissen aber um die Vorwürfe fehlender Legitimität und versuchen nun die Wogen zu glätten.

So haben Sie zwei der ursprünglichen Spitzenkandidat*innen für die Präsidentschaft der Kommission – den Niederländer Frans Timmermans und die Dänin Margrethe Vestager – zu Ihren exekutiven Vizepräsident*innen gemacht und mit mehr Befugnissen ausgestattet. Damit haben Sie eine neue Struktur geschaffen und den Versuch gestartet, die Kommission demokratischer zu gestalten. Diese Entscheidung zeugt von Stärke, finden wir, denn Sie geben Macht ab.

Balanceakt – nicht nur zwischen Berlin und Brüssel

Wird sich diese Neuerung jedoch behaupten können? Reicht sie aus, um den Vorwurf fehlender Legitimität zu entkräften? Jede*r Kommissionspräsident*in drückt der EU einen bestimmten Stempel auf. Wie wird Ihrer aussehen? Welche Schwerpunkte werden Sie setzen, angesichts mehrerer drängender Probleme – angefangen vom Umgang mit eurokritischen/populistischen Bewegungen über Klimawandel bis zu Digitalisierung und sozialer Gerechtigkeit, um nur einige Stichwörter zu nennen? Die inhaltliche Ausrichtung Ihrer Kommission wird mit Spannung erwartet, und Sie haben bereits einige Projekte angekündigt, wie die Vorstellung eines Green New Deals innerhalb der ersten 100 Tage ihrer Amtszeit. Werden Sie mutig neue Impulse setzen und auch schwierige Themen angehen?

Sie sind als überzeugte Europäerin bekannt (und sogar in Brüssel geboren). Sie waren allerdings ebenfalls lange in der deutschen Politik tätig. Nun muss Ihnen ein Balanceakt gelingen, denn Sie sollten zwar das Wohlwollen des Europäischen Rats, also der Mitgliedsstaaten nicht verlieren, müssen sich aber gleichzeitig in erster Linie für die gesamteuropäischen Interessen stark machen. Wichtig wird es ebenfalls sein, eine gute Zusammenarbeit zwischen den Institutionen zu gewährleisten, und zwar insbesondere mit dem europäischen Parlament.

Versprechen von geschlechter- und geopolitischem Gleichgewicht

In jener Pressekonferenz am 10. September haben Sie oft betont, wie wichtig Ihnen ausgeglichene Geschlechter- und geopolitische Verhältnisse sind. Was den ersten Punkt angeht, ist die Tatsache, dass Sie 14 Kommissare und 13 Kommissarinnen aufstellen und zugleich erstmals eine Frau den Posten der Kommissionspräsidentschaft innehat, zweifelsohne ein wichtiger Schritt. Aber auch was den zweiten Punkt angeht, ist es nun an der Zeit Taten folgen zu lassen, denn es reicht nicht, nur die Struktur der Kommission zu ändern und die Ressorts umzubenennen - insbesondere da auch bereits der Name des Portfolios für den “Schutz unserer Europäischen Lebensweise”, der vom Griechen Margaritas Schinas übernommen werden soll, für Kritik sorgte.

Zwar betonen Sie, wie wichtig Ihnen die geopolitische Balance ist, doch faktisch haben Sie die wichtigsten Portfolios, darunter Wettbewerb (Dänemark), Binnenmarkt (Frankreich), Budget (Österreich) und Wirtschaft (Italien), an die einflussreichen, teilweise sehr wirtschaftsstarken, west- und nordeuropäischen Länder vergeben. Es ist schon manchen ein Dorn im Auge, dass eine Deutsche zur Kommissionspräsidentin ernannt wurde. Solche Entscheidungen verstärken bestehende Ressentiments noch mehr. Nun wird es umso mehr auf eine inklusive Führung der Kommission ankommen, die auch die Interessen der zentral- und osteuropäischen Länder gleichberechtigt in Betracht zieht.

Vorgeschlagene Kommissar*innen vor Interessenskonflikten

Sie stehen aber vor noch einem viel größeren Problem: Zwei der von Ihnen vorgeschlagenen Kommissare – der Ungar László Trócsányi und die Rumänin Rovana Plumb – sind nicht vom Rechtsausschuss des Europäischen Parlaments bestätigt worden und dürfen sich gar nicht erst der Befragung durch das Parlament stellen. Grund ist, dass bei beiden ein Interessenkonflikt bestehen soll. Es ist natürlich falsch, dass Ihnen von manchen Medienvertreter*innen die gesamte Schuld zugewiesen wird. Erstens schlagen die Mitgliedstaaten selbst Ihre Kandidat*innen vor und zweitens lagen Ihnen diese Informationen (hoffentlich) noch nicht vor der Aufstellung vor.

Doch leider sind die beiden nicht die einzigen Sorgenkinder: Auch gegen den polnischen Kandidaten und die französische Kandidatin Sylvie Goulard wurde und wird seitens des Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung (OLAF) wegen Korruptionsvorwürfen ermittelt. Eben letztere Kandidatin muss sich im Moment den Anhörungen vor dem Europäischen Parlament stellen, bei denen ihre Integrität auf dem Prüfstand steht.

Mit Blick nach vorne: Ein „Make or Break“-Moment

Leider wird es dadurch wahrscheinlich, dass Ihre vorgeschlagene Kommission nicht zum 1. November ihre Arbeit aufnehmen kann. Zynisch gesehen muss man zugeben, dass diese internen Brüsseler Personalverhandlungen möglicherweise sowieso von den Brexit-Verhandlungen überschattet wird. Doch eben in diesen unsicheren Zeiten würde man sich von der angehenden Kommissionspräsidentin eine klare Linie und ein belastbares Team hinter ihr wünschen. Diese Vorkommnisse werfen leider kein sonderlich positives Licht auf Ihre Kommission und lassen auch bisherige Errungenschaften, wie die Genderbalance, in Vergessenheit geraten. Genau in diesem Moment wäre es daher sehr wichtig, Präsenz zeigen und nicht den Eindruck eines Führungsvakuums aufkommen zu lassen.

Nur so kann es gelingen, das Vertrauen in die EU wieder zu stärken und die EU den Bürger*innen näher zu bringen. Wie Sie mit den ihnen präsentierten Widrigkeiten umgehen, wird für Sie bereits Ihr erster “Make or Break”-Moment sein: Er kann darüber bestimmen, wie die Bürger*innen Sie und Ihre Kommission in den fünf Jahren vor Ihnen sehen werden.

Hochachtungsvoll,

Ann-Marie & Luisa

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