Madelaine Pitt, The New Federalist: Die Junge Europäerin des Jahres 2019 – herzlichen Glückwunsch! Was war deine erste Reaktion, als du erfahren hast, dass du den Titel erhältst?
Yasmine Ouirhrane: Freude! Ich war sehr überrascht, vor allem, weil es viele „erste“ waren: ich bin zum Beispiel die erste Italienerin, die die Auszeichnung erhält. Ich bin froh, dass meine harte Arbeit und meine Bemühungen, die ich im Laufe der Jahre geleistet habe, anerkannt werden. Für mich war es eher ein symbolischer Gewinn als ein persönlicher Gewinn. Er zeigt, dass Anderssein nicht dazu führt, dass man kein Teil der Gesellschaft ist.
Madelaine Pitt: Der*die Preisträger*in wird von der Schwarzkopf Stiftung Junges Europa ausgewählt. Einer der Hauptgründe, warum du als diesjährige Gewinnerin ausgewählt wurdest, ist dein „Engagement für die Gleichstellung von Frauen und Chancengleichheit für Migrant*innen in Europa“. Kannst du uns etwas darüber erzählen, wie du zu diesen Themen gekommen bist?
Yasmine Ouirhrane: Ich habe gekämpft um das zu sein, was ich heute bin. Ich bin stolz darauf, dies als junge Frau geschafft zu haben. Ich bin in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der junge Menschen, insbesondere junge Frauen, keine Führungspositionen einnehmen, und ich wollte, dass sich dies ändert. Ich begann mit Freiwilligenarbeit in ärmeren Stadtvierteln in Grenoble, der Stadt in Frankreich, in die ich mit sechzehn gezogen bin. Ich habe mit lokalen Vereinen zusammengearbeitet und Privatunterricht gegeben. Ich hatte jedoch das Gefühl, dass die jungen Menschen, denen ich helfen wollte, auf politischer Ebene vertreten sein müssen. Deshalb habe ich mich im Europäischen Parlament engagiert, als ich 2017 für den Europäischen Jugendkongress ausgewählt wurde.
Zum ersten Mal konnte ich über die heikelsten Themen Europas diskutieren und verstehen, warum manche Menschen Angst vor Vielfalt und Migration haben und wie sie sich um Themen wie Terrorismus, Jugendarbeitslosigkeit und Korruption sorgen. Ich verstand, dass meine Stimme entscheidend war, weil ich Minderheiten vertreten konnte, die sonst auf dieser Ebene nicht anwesend waren. Als ich später die die Gelegenheit erhielt, zu einem Publikum in New York, Nairobi und Paris zu sprechen, war meine Botschaft folgende: Ich bin ein junger Mensch aus benachteiligten Verhältnissen, die sich für Frauen, für Migrant*innen und für Vielfalt in Europa einsetzen will. Das bin ich und darum stehe ich, wofür ich stehe.
Madelaine Pitt: Du hast kürzlich an der Organisation vom YO! Fest in Straßburg mitgearbeitet, einer Veranstaltung, die junge Menschen für die Politik begeistern soll. Wie wichtig sollte die Rolle junger Menschen bei der Gestaltung der Zukunft Europas sein?
Yasmine Ouirhrane: Extrem wichtig, denn wir sind die Zukunft. Aber wir sitzen nicht am Verhandlungstisch. Wenn Entscheidungen für uns getroffen werden, sind wir nicht dabei. Deshalb bin ich Mitglied des European Youth Advocacy Teams des United Network of Young Peacebuilders geworden. Dieses Netzwerk hat eine führende Rolle bei der Anerkennung der Rolle junger Menschen in friedensfördernden Prozessen gespielt. Frieden ist nicht nur ein Mangel an Krieg. Natürlich reden wir über Frieden in Konfliktgebieten, aber auch in Europa brauchen wir mehr Frieden! Wir müssen junge Menschen einbeziehen, weil wir widerstandsfähiger sind, eher Veränderungen vornehmen, mehr wagen, Träumer*innen sind und weil wir an unsere Überzeugungen glauben. Es ist wichtig, uns einzubeziehen.
Madelaine Pitt: Das ist eine mitreißende Antwort! In Bezug auf dein eigenes Engagement bist du bereits Mitglied des Young Leader Women Deliver-Programms, mit dem die Gleichstellung der Geschlechter und die Lebensqualität von Frauen verbessert werden sollen. Vor kurzem hast du am Emerging Women Leaders Lab der Vereinten Nationen in New York teilgenommen. Ich denke es ist fair zu sagen, dass du eine sehr internationale Aktivistin bist!
Wenn wir genau hinschauen, ist die Ungleichheit der Geschlechter in der EU ein ernstes Problem. Die geschlechtsspezifischen Lohnunterschiede pendeln um die 16%, während geschlechtsspezifische Gewalt laut dem Bericht der Kommission aus dem Jahr 2018 „weit verbreitet, schwerwiegend aber nicht Teil der medialen Berichterstattung“ ist. Inwieweit ist der Kampf für die Gleichstellung der Geschlechter international, inwieweit ist er europäisch, national, lokal?
Yasmine Ouirhrane: Ich habe die Ehre, Teil des Young Leader Women Deliver-Programms zu sein, und es gab mir die einmalige Gelegenheit, zusammen mit der ehemaligen Premierministerin von Australien, Frau Gillard, und der französischen Ministerin für Gleichstellung, Frau Schiappa, vor der UNO zu sprechen. Während die Ungleichheit der Geschlechter ein globales Problem ist, werden Frauen in verschiedenen Bereichen unterschiedlich diskriminiert. Als Europäerin, die in Frankreich lebt, bin ich manchmal aufgrund meiner körperlichen Erscheinung und aufgrund meiner Kleidung mit Diskriminierung konfrontiert, aber wenn ich in den Nahen Osten oder nach Nordafrika reise, wo auch mein Vater herkommt, bin ich Zeugin von geschlechtsspezifischer Diskriminierung aus anderen Gründen, die mit der strikten Trennung von Männern und Frauen zusammenhängen, die das soziale Verhalten in solchen Gesellschaften beeinflusst.
Der Kontext ist also enorm wichtig. Obwohl es sich um ein globales wie ein lokales Problem handelt, müssen wir die Besonderheiten jeder Gesellschaft, auch innerhalb Europas, berücksichtigen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass wir mit Frauen in anderen Gesellschaften keine Solidarität zeigen können und uns nicht zusammenschließen können. Gemäß der Menschenrechtskonvention ist Gleichheit unser Recht, und wir müssen auf europäischer Ebene dafür kämpfen, wobei nationale und lokale Unterschiede vor Ort berücksichtigt werden.
Madelaine Pitt: Dass Europa nicht angemessen auf die Flüchtlingskrise reagiert hat ist eine weit verbreitete Meinung. Unterstützt von der Berichterstattung machen wir es uns manchmal zu einfach indem wir darüber streiten, welche Länder eine bestimmte Anzahl von Flüchtlingen aufnehmen können und sollen. Soll deine Arbeit aufzeigen, dass das Thema viel nuancierter ist? Ist nicht die Debatte über Flüchtlinge mit der Art und Weise verknüpft, wie wir Solidarität zeigen und Möglichkeiten bieten? Hat Europa deiner Ansicht nach genug Solidarität gezeigt?
Yasmine Ouirhrane: Die Krise ist eine Krise, weil wir keine Einigung finden können. Wenn es zu einem klaren Bekenntnis zu den europäischen Werten kommt, die wir teilen, wäre Europa am Ende. Denn die Realität ist, dass die Menschen Angst vor Geflüchteten haben. Die Finanzkrise hat die Menschen schwer getroffen, insbesondere auch in meiner Heimat Italien. Hinzu kommen populistische Bewegungen, die immer mehr Macht gewinnen. Wir sind also finanziell ebenso wie politisch schwach. Darüber hinaus befinden wir uns auf internationaler Ebene, aufgrund des geopolitischen Umfelds, in einer sehr verletzlichen Position.
Deshalb tendieren die Menschen dazu zu glauben, dass Geflüchtete gefährlich sind, dass sie kommen, um unsere Jobs zu klauen. Dies ist heute ein verbreiteter Diskurs in Italien, denn wenn die Menschen Angst haben, nähren die Politiker*innen ihre Ängste. Die europäische Antwort kann daher nicht eindeutig sein, da Europa an diesem sehr zerbrechlichen Zeitpunkt mit all der Euroskepsis sterben würde.
Madelaine Pitt: Sprechen wir über die populistischen Bewegungen, die du gerade erwähnt hast. Du hast dich klar gegen diese positioniert. Jetzt stehen die Europawahlen vor der Tür. Wie werden die beiden Themen, die Gleichstellung der Geschlechter und die Behandlung von Geflüchteten, die dir offensichtlich sehr am Herzen liegen, die Debatte beeinflussen, und welche Relevanz haben diese für die Entwicklung populistischer Bewegungen?
Yasmine Ouirhrane: Der Extremismus beginnt immer mit einer Ideologie. Italien hat den Faschismus bereits kennen gelernt. Ich bin mit dem Denken aufgewachsen, dass wir sehr bewusst sein müssen, dass diese Ideologien zu Hass führen können. Die Geschichte hat uns gezeigt, dass sie zum Völkermord führen können. Um dies zu verhindern, habe ich immer gegen Rassismus gekämpft, den ich bereits sehr früh in meinem Leben gesehen habe. Als sich meine Mutter entschied, meinen Vater zu heiraten, wurden beide diskriminiert. Es ist ein sehr persönliches Thema, das meine Familie von Anfang an beeinflusst hat. Ich aber habe es zu meiner Stärke gemacht.
In Italien glaubten wir, der Faschismus sei beendet; er kommt zurück. Wir haben einige neue Parteien, die versuchen, Sitze bei den Europawahlen zu gewinnen, und einige der unverschämtesten Maßnahmen vorschlagen. Ja, es ist beängstigend, aber es motiviert mich noch mehr, für das zu stehen, wofür ich stehe, für Frieden, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit. Also stehe ich auf und sage: Ich bin Europäerin und ich gehöre dazu, ich bin Italienerin und ich gehöre dazu, ich bin eine Frau, ich bin Bürgerin, ich bin eine Person, ich erwarte, dass ich dafür respektiert werde.
Madelaine Pitt: Diese vielfältigen Facetten deiner Identität scheinen dir bei deiner Arbeit eine treibende Kraft zu sein. Im Gegensatz dazu scheint sich eine Menge rechtsextremer Rhetorik darauf zu konzentrieren, eine enge Definition von Identität durchzusetzen, eine einzige nationale Identität. Es ist vielleicht nicht überraschend, dass hier ein Konflikt zwischen Ideen herrscht…
Yasmine Ouirhrane: Als ich als Junge Europäerin des Jahres 2019 bekannt gegeben wurde, habe ich Hunderte und Hunderte von Hasskommentaren, Drohungen und Beleidigungen erhalten. Die Leute sagten mir, ich sei Araberin und keine Europäerin - und ich fand das lustig! Ich wusste, dass dies passieren würde, weil mir das schon täglich passiert. Ich werde in meinem Leben häufig auf verschiedene Arten diskriminiert. Das Ausmaß der hasserfüllten Kommentare erlaubte mir jedoch, allen zu zeigen, was wir zu bekämpfen haben. Für mich war es immer klar, was wir bekämpfen müssen, aber für andere, die dies nicht persönlich erfahren, ist es schwer zu erklären.
Wenn es um Identität geht, habe ich viel über meine vielfältigen Identitäten nachgedacht. Ich bin selbstbewusst und weiß, wer ich bin. Ich finde es traurig, dass andere das nicht anerkennen. Ich bin Italienerin, aber ich sollte nicht beweisen müssen, dass ich aus Europa komme, um Europäerin zu sein. Wenn man in Europa geboren wurde, wenn man sich als Europäer*in fühlt, selbst wenn wie in meinem Fall einer oder beide Eltern aus anderen Ländern kommen, wenn man europäische Werte teilt ist man Europäer*in. Das ist meine Botschaft - natürlich bin ich immer noch Italienerin und ja, ich esse jeden Tag Pasta, aber wir gehören trotzdem alle hierher, auch wenn das nicht jeder erkennt.
Madelaine Pitt: Bleiben wir nochmal bei der europäischen Identität. Im Rahmen der Brexit-Debatte spielt diese eine große Rolle. Du hast kürzlich auf Twitter Unterstützung für Gruppen wie „Our Future Our Choice“, die sich gegen den Brexit stark machen, geäußert (was mich persönlich sehr gefreut hat, da ich mich dort engagiere!). Meiner Meinung nach geht es in der Debatte um den Brexit um Identität - mehr als um Wirtschaft oder Politik. Viele Brit*innen fühlen sich nicht als Europäer*innen. Inwieweit können wir wirklich sagen, dass es eine „europäische Identität“ gibt und wenn ja, wie viele Menschen in Europa glauben heutzutage wirklich daran?
Yasmine Ouirhrane: Dass wir keine gemeinsame Identität haben ist eine der größten Herausforderungen Europas. Wir haben keine gemeinsame Sprache, mal abgesehen von Englisch als Lingua Franca. Ich denke auch, dass der Brexit viel mit Identität zu tun hat, aber auch mit Migration. Viele Italiener*innen und andere EU-Bürger*innen kamen nach Großbritannien, um dort zu arbeiten und zu studieren, und die Brit*innen fühlten sich manchmal überfordert, besonders in Krisenzeiten. Es ist jedoch wichtig, unsere europäische Identität zu stärken.
Madelaine Pitt: Und wie?
Yasmine Ouirhrane: Ich denke, das Erasmus-Programm ist unentbehrlich. Die Zeit im Ausland, wird nie vergessen und prägt dich ein Leben lang. Ich studiere in einem binationalen Studiengang an der Universität in Turin. Als Erasmus-Studentin in mein Heimatland zu kommen, hat mir das Gefühl gegeben, wirklich europäisch zu sein. Junge Menschen, die an dem Programm teilnehmen, sind jedoch in der Minderheit, daher sollten wir dies fördern und auch den Austausch während der Schulzeit fördern.
Wichtig sind auch Veranstaltungen für junge Menschen, wie das European Youth Event. Letztes Jahr wollte ich dieses noch abwechslungsreicher machen. Wir haben vom Europäischen Parlament Gelder erhalten, um jungen Menschen aus benachteiligten Verhältnissen die Teilnahme zu ermöglichen, denn obwohl es sich um eine offene Veranstaltung handelt, kommen nur Menschen, die es sich leisten können. Ich habe es geschafft, die Teilnahmekosten für 30 Menschen zu sponsern. Die meisten von ihnen hatten einen Migrationshintergrund, alle wurden in Italien oder Frankreich geboren und lebten dort. Einige von ihnen fühlten sich zum ersten Mal als Europäer*in. Deshalb brauchen wir mehr Jugendveranstaltungen, bei denen Jugendliche aus allen Hintergründen sprechen und gehört werden können.
Madelaine Pitt: Es klingt, als hättest du weitaus wichtigere Dinge zu tun, als mit uns zu sprechen, also lassen wir dich jetzt mal weiter die Welt verändern. Noch eine letzte Frage: Wenn du mit einer Politiker*in oder einer Aktivist*in zu Abend essen könntest, wer wäre das?
Yasmine Ouirhrane: Angela Davis ist mein Vorbild. Sie ist eine intersektionale Feministin und war lange als Bürgerrechtlerin aktiv. Jetzt ist sie Professorin an der University of California. Sie vermittelte mir die Begriffe Rasse, Geschlecht und Klasse im Feminismus. Dank ihr identifiziere ich mich als intersektionale Feministin.
Madelaine Pitt: Ach, und wie viele Sprachen sprichst du eigentlich?
Yasmine Ouirhrane: Fünf. Im Gegensatz zu dem, was die meisten annehmen, ist Arabisch meine schwächste Sprache. Ich spreche italienisch, französisch, englisch und spanisch.
Yasmine erhielt ihre Auszeichnung während des Youth Forums im April in Brüssel. Folge ihr auf Twitter: @yasmineojay und schau dir ihre vollständige Rede bei der Preisverleihung an.
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