Wählen oder nicht wählen? Demokratie in Zeiten der Seuche

, von  Magdalena Smenda, übersetzt von Marcel Knorn

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Wählen oder nicht wählen? Demokratie in Zeiten der Seuche
Präsidentenpalast in Warschau Picture credits: Flickr / Dennis Jarvis / CC BY-SA 2.0.

Die für den 10. Mai geplanten polnischen Präsidentschaftswahlen wurden bislang nicht verlegt. Die Frage, wie man in der Situation nie dagewesener Bewegungseinschränkungen ein neues Staatsoberhaupt wählt, bleibt offen. Insbesondere deshalb, weil einige Bewerber auf das Amt ihre Wahlkampagnen aussetzen und eine Verschiebung der Wahl fordern.

Die für den 10. Mai geplanten polnischen Präsidentschaftswahlen wurden bislang nicht verlegt. Die Frage, wie man in der Situation nie dagewesener Bewegungseinschränkungen ein neues Staatsoberhaupt wählt, bleibt offen. Insbesondere deshalb, weil einige Bewerber*innen auf das Amt ihre Wahlkampagnen aussetzen und eine Verschiebung der Wahl fordern. Die französischen und israelischen Erfahrungen zeigen, dass das Credo „Wollen bedeutet Können“ nicht ohne Opfer – sowohl metaphorische als auch reale – auskommt. Der Zweifel zahlreicher polnischer Jurist*innen sollte ebenso wenig ausgeblendet werden. Zu unser aller Wohl.

Lehren aus Frankreich und Israel

Zuallererst lohnt sich ein Blick auf jene Beispiele, die sich hinter unseren im Moment geschlossenen Grenzen abspielten. Frankreich und Israel stellten sich bereits analogen Herausforderungen in vergleichbaren Umständen.

Die erste Runde der Wahlen zu den französischen Selbstverwaltungen, die für den 15. März angesetzt war, fand planmäßig statt. Die zweite hingegen wurde aufgrund der vorherrschenden Pandemie abgesagt [1]. Dieser Umstand war damit begründet, dass die Pandemie Mitte März schon ein verhältnismäßig fortgeschrittenes Stadium erreicht hatte. Einen Tag vor den Wahlen hatte Frankreich das sogenannte dritte Stadium der Epidemie erreicht. Der Virus hatte sich bereits über das ganze Staatsterritorium hinweg ausgebreitet [2]. Bereits kurz nach der Abstimmung klagten Mitglieder einiger Wahlkommissionen über Symptome des Virus. In vielen Fällen erwiesen sich diese Befürchtungen als berechtigt. Einige der angetretenen Kandidat*innen kündigten eine Beschwerde beim Gerichtshof an, die sie mit „der Gefährdung des Leben Anderer“ begründeten [3]. Zudem lag der Anteil der Nichtwähler*innen bei der Wahl um etwa 18 Prozentpunkte höher als bei den letzten Wahlen 2014. 39% derer, die der Wahl fernblieben, begründeten ihre Entscheidung mit der Furcht vor dem Coronavirus [4]. Die Frage nach der Legitimierung der gewählten Kandidat*innen stellt sich von selbst.

Die dritte Wahl in Israel innerhalb der letzten zwölf Monaten wurde ebenfalls von der Pandemie überschattet. Für unter häuslicher Quarantäne stehende Personen führte man eigens eine spezielle Wahlkommission ein [5]. Bei einer Zahl von mehr als 50.000 in Isolation befindlicher Personen forderte dieser Schritt zweifelsohne einen gewaltigen finanziellen und organisatorischen Einsatz [6]. Direkt nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse versicherte der Vorsitzende des Mitte-Links-Blocks, Benny Gantz, der vom Präsidenten mit der Regierungsbildung beauftragt wurde: „eine vierte Wahl ist während der Krise unmöglich“ [7]. Die Situation erschwert der Umstand, dass Gantz ohne die Einberufung der Knesset, des israelischen Einkammerparlaments, über keine Möglichkeit verfügt, die Zusammensetzung der von ihm vorgeschlagenen Regierung zur Abstimmung zu stellen [8]. Wie kann die Knesset einberufen werfen, wenn Versammlungen verboten sind? Als Reaktion auf die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, nach derer das Parlament einzuberufen sei, trat der Vorsitzende der Knesset prompt zurück. Zu guter Letzt kommt der politische Kampf sowie der Unwille Premierminister Netanjahus zur Machtabgabe zu tragen, da diesen nach seinem Ausscheiden aus dem Amt wohl eine Korruptionsanklage erwartet [9]. Es zeigt sich, dass das sich ausbreitende Virus zu einem zynischen Instrument politischer Rivalität im vorangeschrittenen politischen Machtkampf geworden ist.

Der (Nicht)Ausnahmezustand und die Wahlen

Bei der Rückkehr zum polnischen Fall lohnt es sich, einen Blick auf den spezifischen rechtlichen Ausnahmezustand zu werfen, in dem wir uns jetzt befinden. Oder vielmehr das Fehlen dieses Zustandes.

Nach Angaben der ehemaligen Menschenrechtsbeauftragten, Prof. Ewa Łętowska, gäbe es offensichtlich rechtlichen Spielraum für die Einführung eines Ausnahmezustandes. Das sogenannte Virusgesetz [Anm.: Ustawa wirusowa] ziele darauf ab, die Kontrolle über die Situation zu erlangen, ohne die Handlungsgewalt mit der lokalen Regierung teilen zu müssen [10]. Auch nach Meinung des derzeitigen Menschenrechtsbeauftragten Adam Bodnar wurde der Artikel 228 der polnischen Verfassung genau für derartige Umstände geschaffen. Darüber hinaus sollte, wie Bodnar in seinem Brief an Premierminister Mateusz Morawiecki betont, „die Bekämpfung dieser Epidemie innerhalb der Rechtsordnung erfolgen, zu deren Einhaltung nicht nur die Bürger, sondern auch die Behörden verpflichtet sind“ [11]. Dies deutet darauf hin, dass die Bemühungen der Regierung über diesen Rahmen bereits hinausgingen und der im Grundgesetz nicht vorgesehene Status der Epidemie generell ernsthafte Zweifel rechtlicher Natur aufwirft.

Im Zusammenhang mit den Wahlen kommt dem Ausnahmezustand eine Schlüsselrolle zu, denn die Ausrufung eines der in der polnischen Verfassung vorgesehenen Ausnahmezustände würde eine obligatorische Verschiebung dieser Wahlen bedeuten und den Weg für eine Entschädigung aus Staatskassenmitteln freimachen [12]. Darüber hinaus können verfassungsgemäß innerhalb von 90 Tagen nach Ende des Ausnahmezustands keine Präsidentschaftswahlen abgehalten werden, was den drei Monaten Aufschub ab dem Zeitpunkt der „Rückkehr zur Normalität“ Bedeutung beimisst.

Zusätzlich bleibt die Frage nach der Durchführung der Wahlkampagnen bestehen. Laut Professorin Łętowska seien "die Wahlen ein Problem gleicher Spielregeln für alle. Im Moment gibt diese gleichen Spielregeln für alle nicht.“ [13]. Dies ist auf den Fakt zurückzuführen, dass der amtierende Präsident Andrzej Duda einen erheblichen Vorteil bei der Durchführung des Wahlkampfs hat. Die Situation ist zugegebenermaßen paradox: Die Förderung von Wahlen und hohen Wahlbeteiligungen kann unter diesen außergewöhnlichen Umständen als undemokratisch angesehen werden.

Die neueste Idee der Regierung - die Korrespondenzabstimmung [Anm.: d. h. eine reine Briefwahl] – gilt als äußerst kontrovers [14]. Tatsächlich hat diese Möglichkeit bereits früher bestanden, jedoch handelte es sich hierbei um mehrere tausend Wähler*innen, nicht um Millionen von Bürgern [15]. Die Anzahl möglicher Missbräuche und Mängel und in der Konsequenz von Wahlboykotten ist schwer abschätzbar. Wie Prof. Ryszard Piotrkowski, Verfassungsrechtler an der Universität Warschau, unterstreicht, sei die Korrespondenzwahl eine reine Ausnahme und müsse daher sorgfältig vorbereitet und behutsam durchgeführt werden [16]. Die Ankoppelung dieser Maßnahme an den Krisenschutzschild wirft weitere rechtliche Zweifel auf. Wie das polnische Verfassungsgericht in seiner Entscheidung von 2006 erklärte, können sechs Monate vor dem Wahltermin keine Änderungen am Wahlgesetz durchgeführt werden [17]. Inzwischen hat jedoch die aktuelle Regierung in der Nacht vom 27. auf den 28. März die Korrespondenzabstimmung auf neue Bürgergruppen ausgedehnt [18].

Abschließend ist zu betonen, dass die immer noch rechtsverbindlichen Vorschriften der Wahlkreiskommissionen vom 2. März 2020 keine Ausnahmezustände vorsehen. Aus offensichtlichen Gründen empfehlen sich keine direkt stattfindenden Sitzungen der Wahlkommissionen. Daher besteht die einzige Möglichkeit, und sei es für die Durchführung von Schulungsmaßnahmen der Wahlkommissionen, im Wechsel in den Fernmodus, dessen rechtlicher Status derzeit nicht geklärt ist [19].

Wollen bedeutet können?

Wie die Beispiele Frankreichs und Israels zeigen, ist es durchaus möglich, während der Coronavirus-Pandemie Wahlen durchzuführen. Hierbei handelt es sich jedoch um halsbrecherische Vorhaben, die eine Reihe von Zweifeln aufwerfen. Die Frage lautet, ob der Preis, den unsere Gesellschaft zahlen muss, nicht doch zu hoch ist. Zu behaupten, dass nichts passiere und der Staat normgemäß funktioniere, während die Unterschiede mit bloßem Auge sichtbar sind, ist eine Verleumdung der Realität. Wenn wir diesen Weg weitergehen, werden wir aufgrund der eingebüßten Demokratie bald Phantomschmerzen erleben - den durchgeführten Wahlen zum Trotz.In der Zwischenzeit zählt die Uhr auf der Website der Nationalen Wahlkommission immer noch die Sekunden bis zur Eröffnung der Wahllokale hinunter.

Nachweise

[1] https://www.gazetaprawna.pl/artykuly/1460826,francja-taktyke-koronawirus-odwolana-ii-tura-wyborow-zamykane-granice.html [2] https://sante.journaldesfemmes.fr/maladies/2605417-coronavirus-epidemie-attestation-sortie-france-conseils-bilan-cas-graves-mort-monde-ile-de-france-italie-espagne/ [3] https://www.rtl.fr/actu/politique/coronavirus-en-france-une-candidate-aux-municipales-veut-attaquer-l-etat-7800329183 [4] https://www.francetvinfo.fr/elections/municipales/elections-municipales-2020-le-coronavirus-raison-numero-1-de-l-abstention-record-au-premier-tour-du-scrutin_3867995.html [5] K. Przewrocka-Aderet, „Izrael po wyborach”, Tygodnik Powszechny, nr 11, 15.03.2020. [6] https://www.bbc.com/news/world-middle-east-51902678 [7] https://www.bbc.com/news/world-middle-east-51902678 [8] https://klubjagiellonski.pl/2020/03/26/epidemia-koronawirusa-ostatnia-szansa-netanjahu-na-polityczne-przetrwanie/ [9] https://klubjagiellonski.pl/2020/03/26/epidemia-koronawirusa-ostatnia-szansa-netanjahu-na-polityczne-przetrwanie/ [10] https://oko.press/prof-letowska-dyskusja-o-wyborach/ [11] https://www.rpo.gov.pl/sites/default/files/Rozporz%C4%85dzenia%20MZ%20COVID-19%2027.03.2020.pdf [12] https://oko.press/prof-letowska-dyskusja-o-wyborach/ [13] https://oko.press/prof-letowska-dyskusja-o-wyborach/ [14] https://www.rp.pl/Wybory-prezydenckie-2020/304019898-PiS-wciaz-liczy-ze-prezydenta-uda-sie-wybrac-w-maju.html [15] https://www.rp.pl/Opinie/304029940-Mariusz-Krolikowski-Wybory-w-czasach-zarazy.html [16] https://www.rp.pl/RZECZoPRAWIE/191019640-Profesor-Ryszard-Piotrowski-o-skutkach-i-znaczeniu-wyborow.html [17] https://wyborcza.pl/7,75398,25827021,stepien-nocne-zmiany-w-kodeksie-wyborczym-sa-niezgodne-z-praw.html [18] https://www.rp.pl/Opinie/303289970-Marek-Domagalski---glosowanie-korespondencyjne-techniczna-zmiana-w-ogniu-polityki.html [19] https://pkw.gov.pl/uploaded_files/1583162774_uchwala-nr-462020-uchwala-regulaminy-komisji.pdf

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