Die meisten Teilnehmenden einer Zoomkonferenz hören zu oder sprechen - nicht so Menah. Menah ist freischaffender Illustratorin und Künstlerin für visuelle Notizen, heißt eigentlich Marleen Wellen und lebt in Amsterdam. In ihrem Twitterstatus beschreibt Menah ihr Talent als “kann gleichzeitig zuhören und zeichnen”.
Unter Beweis stellte sie ihre Fähigkeit am 18. November bei der Onlinedebatte “A Cultural Deal for Europe – A central place for culture in the EU’s post-pandemic future”, die von Culture Action Europe (CAE), European Cultural Foundation und Europa Nostra, initiiert wurde. Die Onlinedebatte warf nicht nur einen kritischen Blick auf die Rolle des Kultursektors für die gesamtgesellschaftliche Erholung Europas nach der COVID-19 Pandemie, sondern auch für die Zukunft Europas. Damit vereinte die Konferenz kurzfristige als auch langfristige Perspektiven für den europäischen Kultursektor.
Kultur macht online anders
Eingangsmusik, die an eine Lofi-Hiphop Soundtrack erinnert. Ein Moderator mit britischen Akzent in einem abgedunkelten Saal und vor einer rot leuchtenden Leinwand. Dharmendra Kanani, von der Brüsseler Denkfabrik Friends of Europe, weiß, um die Sorgen und Situation des Kultursektors. Als Moderator findet er gefühlvolle Worte, um den Ernst der Lage wieder zu spiegeln und ebenso eine digitale Diskussion ins Rollen zu bringen. Was wie eine Late-Night-Show bei Jimmy Fallon klingt, ist die Onlinedebatte zum Cultural Deal für Europa.
Er ist einer der vielen leidenschaftlichen Sprecher*innen der Konferenz. Unter den Teilnehmenden waren die EU-Kommissarin für Innovation, Forschung, Kultur, Bildung und Jugend, Mariya Gabriel, die Vorsitzende des Ausschusses für Kultur und Bildung (CULT) des Europäischen Parlaments, Sabine Verheyen, der französische Staatssekretär für Europäische Angelegenheiten, Clément Beaune, sowie weitere Europaabgeordnete, Vertreter*innen der Mitgliedstaaten und anderer europäischer Institutionen. Begleitet wurde die mehrstündige Konferenz auch von über 450 Interessenvertreter*innen und Akteur*innen aus der Zivilgesellschaft.
Während die einen vor Gemälden, Pflanzen oder in Kulturerbestätten sitzen, stehen andere in politischen Institutionen oder vor EU-Flaggen. Ihre diverse Inszenierung ist bewusst gewählt und sendet einen Appell an unterschiedliche Ebenen der Politik und Zivilgesellschaft. Die unterschiedlichen Hintergründe lenken aber nicht von ihrer Kernaussage ab: Der Umgang mit dem Kultursektor muss sich verändern. Nach der Onlineveranstaltung soll es mehr als nur einen Hashtag (#CulturalDealforEurope) geben. Die Initiator*innen der Konferenz fordern ein ehrgeiziges Kulturabkommen in Form eines “Cultural Deals”. Dieses Abkommen soll zur Wiederbelebung des europäischen Kultursektors beitragen, aber auch ein neues Europa schaffen. Ein Europa, das Kultur als zentral anerkennt und sich aus einer kulturellen Perspektive heraus definiert.
Die intensive Debatte stellte eine innovative Zusammensetzung aus Live-Diskussionen und Videobeiträgen dar, wie zum Beispiel die Eröffnungsrede von David Sassoli, der Präsidenten des Europäischen Parlaments. Immer wieder lenkte der Moderator Dharmendra Kanani die Aufmerksamkeit auf Künstlerin Menah, die die komplexen Inhalte der Konferenz live visualisierte. Neben den unterschiedlichen Vermittlungsformaten gibt es eine weitere Besonderheit: Erst zum zweiten Mal findet die Debatte in dieser Form (“La Rentrée am 18. September 2019) statt. Neben Akteur*innen des europäischen Kultursektors waren auch zum ersten Mal Vertreter*innen aus der Wirtschaft sowie weiteren Politikbereichen anwesend.
Kultur, als wichtiges Standbein der Gesellschaft, fördern
Wenn mensch nach einem Deal sucht, wünscht mensch sich eine Abmachung, eine Vereinbarung, einen Handel. Doch wie möchte die Europäische Union eine Abmachung mit der Kultur machen? Wie soll der „Cultural Deal für Europa“ überhaupt aussehen? Die European Cultural Foundation (ECF) wünscht sich dabei vor allem, dass die Kultur in ein zentrales Licht gerückt wird, da sie auf vielen verschiedenen eben bereichernd ist. Sie dient als “Sozialer Kleber” der Gesellschaft und genau diesen Kleber brauchen wir gerade dringender als jemals zuvor. Sneška Quaedvlieg-Mihailovic, die Generalsekräterin von Europa Nostra, betont die “fundamentale Bedeutung des Kultursektors als Gegenmittel für Nationalismus, Populismus und Totalitarismus”. Zusätzlich steht fest: “Kultur ist immer politisch”, sagte die Präsidentin der Klassik Stiftung Weimar, Ulrike Lorenz, 2019 im Interview mit Deutschlandfunk und ist somit ganz auf einer Linie mit der ECF. Mal ganz abgesehen davon, dass Kultur eben auch ein großer wirtschaftlicher Faktor, vor allem im Bereich des Tourismus ist. Der Europäischen Kommission zufolge, können 40% des Europäischen Tourismus als Kulturtourismus gezählt werden.
So vielfältig wie sich Kultur gestaltet und so vielfältig, wie ihre Funktionen sind, so vielfältig sind auch die Pläne für einen Cultural Deal. Diese Beziehen sich zum einen auf die finanzielle Unterstützung und zum anderen auch viel darum, welchen Stellenwert der Kultur innerhalb der europäischen Gesellschaft eingeräumt wird. Es sind vor allem die verantwortlichen Minister*innen für Finanzen, die von der wirtschaftlichen Relevanz des Kultursektors überzeugt werden müssen. Obwohl Sabine Verheyen,die Vorsitzende von CULT, berichtet, dass das Budget für das EU-Programm Creative-Europe für den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen (2021-2027) um 600 Millionen Euro erhöht wurde, ist mehr finanzielle Unterstützung nötig.
Eine der Wünsche ist, dass mindestens 2% des EU Recovery und Resilience Facility (RRF) für den Kultursektor bereitgestellt wurde. Dieser Fond wurde im Mai als Herzstücks des Wiederaufbaufonds für die nächste Generation (NextGenerationEU) festgelegt. Außerdem sollen EU-Institutionen dazu aufgerufen werden die nationalen Wiederaufbauzahlungen an die Kultur zu überprüfen. Also nicht nur wer wie viel Geld zahlt, sondern auch wie erfolgreich diese sind. Verheyen als auch Tere Badia, die Generalsekräterin von Culture Action Europe (CAE), möchten nicht zu den prekären Arbeitsverhältnissen von Kulturschaffenden vor der Coronakrise zurückkehren. Vielen Künstler*innen ist es nicht möglich europäische Fördergelder zu beantragen, da ihre Lebensrealitäten als Soloselbstständige oder ihre flexiblen Arbeitszeiten nicht berücksichtigt werden, so Badia.
Es soll außerdem eine rechtzeitige finanzielle Unterstützung für Kulturschaffende geben, die besonders unter der anhaltenden Corona-Pandemie leiden. Dabei sollen die Betroffenen in den Entscheidungsprozess über Maßnahmen mit einbezogen werden. Über den finanziellen Rahmen hinaus, soll die Kultur in die Agenda für nachhaltige Entwicklung und einen EU Green Deal eingefügt werden, um so gemeinsam wirtschaftliche und ökologische Schwierigkeiten zu stemmen. Damit wird Kultur eine treibende Kraft im Bereich Innovation und der Zukunft Europas eingeräumt.
Wie viele Menschen sind davon betroffen
Kultur ist oftmals für viele Menschen ein eher abstrakter Begriff. Was ist Kultur, was ist Kunst, was ist Müll? Was allerdings jenseits von abstrakt ist, sind die einzelnen Schicksale, die an den Begriff der kulturellen Arbeit geknüpft sind. Das Statistischen Amt der Europäischen Union (eurostat) bietet für diesen Fall eine ausführliche Statistik. Laut eurostat waren 2019 7,4 Millionen Menschen im kulturellen Bereich tätig. Das macht etwa 3,7% aller arbeitenden Menschen in der Europäischen Union aus. Eine Zahl hilft in diesem Fall sich eine grobe Vorstellung darüber zu machen, wie viele Existenzen an den kulturellen Bereich gekoppelt sind, wobei es natürlich auch innerhalb der einzelnen Länder noch einmal Unterschiede gibt.
Quelle: eurostat
Kulturförderung in Deutschland?
Mit 4% liegt Deutschland im vorderen Viertel der Anzahl an Kulturschaffenden. Im Sommer 2020 hatte die deutsche Bundesregierung das Programm NEUSTART KULTUR ins Leben gerufen. Insgesamt sollen eine Milliarde Euro in über 50 Teilprogramme investiert werden, auf die sich Künstler*innen bewerben können. Bis Mitte November wurden offiziell 35.000 Anträge eingereicht. Das Ziel dabei sind vor allem privat geführte Kultureinrichtungen, dort sollen die Kreativen langfristige Unterstützung für den Neustart bekommen.
Außerdem gibt es auch innerhalb der Bundesländer unterschiedliche Strategien, um die Kulturschaffenden zu unterstützen, wobei da, der ein oder andere Hinweis Fragen aufwirft. So hat zum Beispiel die Landesregierung Baden-Württembergs Anfang November auf ihrem offiziellen Instagram-Account ein Video veröffentlicht, in dem ein Ballett-Tänzer erzählte, dass er seinen kreativen Beruf hinter sich gelassen hat, um im Medizin-Sektor zu arbeiten. Dies sorgte bei einigen User*innen für Verwirrung, denn einen Anreiz zu einem Berufswechseln, können während einer weltweiten Pandemie nur wenige Menschen gebrauchen.
Möglichkeiten, Anträge und Tipps gibt es viele, wenn man sich über Coronahilfen informieren möchte. Meist wird mit großen Zahlen jongliert, die bei genauerer Betrachtung in sich zusammenschrumpfen, so wie auf der Online-Konferenz bereits bemerkt wurde.
Was bleibt vom Cultural Deal?
Sucht man nach Beiträgen zur Online-Konferenz “A Cultural Deal for Europe”, so sucht man vergebens. Kein deutsches oder europäisches Medium hat über die Veranstaltung berichtet. Dafür wird ein Youtube Video von Menahs künstlerische Dokumentation angezeigt. Warum? Weil Kultur noch immer als unpolitisch und nicht zentral gesehen wird. Weil Kulturschaffende in Europa zwar nun vereint auftreten, aber konkrete Beschlüsse und eine gemeinsame Lobby noch weiterhin fehlen. Weil unter den Teilnehmenden keine osteuropäischen Stimmen aus der Kulturbranche vertreten waren, stattdessen von Rom, Florenz und der Renaissance gesprochen wurde.
Es ging soweit, dass Sprecher*innen wie André Wilkens, der bereits für die EU, verschiedene Stiftungen und die UNO arbeitete, die Veränderung des Kultursektors auf europäischer Ebene auf das Individuum abwälzte und Mariya Gabriel von einer notwendigen Bottom-Up Bewegung sprach. Die Verantwortung jedes*jeder Einzelne*n spitzte sich zuletzt mit der Zoomumfrage des Moderators “Können wir auf dich bei der kulturellen Veränderung in Europa zählen?” zu.
Es stimmt, dass jede*r einzelne das Joint Statement von Culture Action Europe und Europa Nostra auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene verbeiten kann. Dennoch sitzt das Problem bei den politischen Vertreter*innen nationaler und europäischer Ebene und muss in die breite Gesellschaft getragen werden: Kultur ist keine Nebensache und auch kein Luxus. Kultur ist politisch und das ein für alle Mal.
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