Warum Sprache mehr ist als Wörter

, von  Gesine Weber

Warum Sprache mehr ist als Wörter

Eine gemeinsame europäische Verkehrssprache ist gut - aber nicht genug, um der kulturellen Vielfalt in der EU gerecht zu werden. Nur durch konsequente Mehrsprachigkeit können wir Grenzen für das gegenseitige Verständnis aufbrechen und interkulturelle Kompetenz schaffen, meint Gesine Weber. Ist eine gemeinsame Verkehrssprache nicht genug oder behindert sie gar kulturelle Vielfalt?

Dieser Artikel erschien im Original am 23. Juni 2019.

Fernweh. Leitmotiv. Schadenfreude – diese Begriffe haben nicht nur gemeinsam, dass sie aus zwei Wörtern zusammengesetzt sind, sondern auch, dass es im Englischen keine wirklich akkurate Übersetzung für sie gibt. Sucht man sie im Wörterbuch, findet man entweder eine etwas umständliche Übersetzung - so wird etwa „Schadenfreude“ mit „malicious joy“ übersetzt - oder einfach ein und dasselbe deutsche Wort, einzig ohne Großbuchstaben am Anfang. Was bei Fernweh, Leitmotiv und Schadenfreude noch funktioniert, stößt bei anderen Wörtern an seine Grenzen: Kaum eine Sprache findet ein akkurates Pendant für den Begriff „Heimat“, und französische Muttersprachler*innen und Sprachlernende sind sich einig, dass es kein Wort gibt, das komplexe Sachverhalte so gut umschreibt wie der Ausdruck „enjeu“. Oft sind es diese Eigenheiten, die Nicht-Muttersprachler*innen beim Erlernen einer Sprache entweder in den Wahnsinn treiben oder begeistern; sie machen Sprachen besonders und lassen uns nicht nur viel über die Sprache als System verstehen, sondern auch über die Denkweise der Menschen, die sie sprechen.

Mehrsprachigkeit oder Lingua Franca?

Sprachenpolitik und Mehrsprachigkeit haben in der EU schon immer zu hitzigen Debatten geführt. Aktuell hat die EU 24 Amtssprachen, damit Menschen aller Muttersprachen Zugang zur Politik in Brüssel haben; damit das funktioniert, arbeiten in Brüssel rund um die Uhr 4.000 Übersetzer*innen und Dolmetscher*innen. Sie übersetzen Gesetze und Pressemitteilungen und dolmetschen bei Verhandlungen oder Sitzungen des EU-Parlaments simultan, und sorgen dafür, dass Brüssel nicht Babel wird. Während die einen diese Regelung als gelebte Mehrsprachigkeit feiern, verteufeln die anderen die EU als Monstrum der Sprachenbürokratie und fordern eine einzige einheitliche Verkehrssprache (Lingua Franca), meist Englisch oder Esperanto. Die Argumente dafür sind stark: Beide Sprachen gelten als relativ leicht erlernbar, ihre Grammatik und Vokabular als eingängig und wenig komplex. Dass gerade Englisch im 21. Jahrhundert selbstverständlich sein sollte, liegt auf der Hand: Wenn auch nur knapp vor Chinesisch ist Englisch die Sprache mit den meisten Sprecher*innen weltweit, für den Zugang zu Informationen ist Englisch unverzichtbar, und gerade für Sprecher*innen kleinerer Sprachen, in die Filme oder Bücher nicht übersetzt werden, oftmals die zentrale Zugangsmöglichkeit zu Kultur. Warum einigen wir uns also nicht einfach darauf, dass wir alle sehr gutes Englisch sprechen sollten, damit wir im Zweifel nach dem Weg fragen können, Bewertungen auf Restaurantportalen schreiben und verstehen können, und Verhandlungen mit Geschäftspartner*innen auf Englisch führen können - warum führen wir diese Debatte, ob wir andere Sprachen überhaupt brauchen?

Englisch ist keine Universallösung

Englisch als eine gemeinsam genutzte Verkehrssprache ist eine gute Idee ist, keine Frage. Auch wenn nach dem britischen EU-Austritt nur noch in zwei EU-Mitgliedstaaten, Irland und Malta, Englisch die Amtssprache ist, hat Englisch als Sprache in der EU zwei große Vorteile: Im Vergleich zu anderen europäischen Sprachen ist es eher leicht zu lernen, und in keiner anderen Sprache ist die Zahl der Menschen in der EU, die sie bereits auf sehr gutem Niveau sprechen, so hoch wie bei Englisch.

Allerdings zeigen die Statistiken auch, dass fließendes Englisch vor allem in den Staaten verbreitet ist, in denen Menschen eine germanische Sprache als Muttersprache sprechen, beispielsweise in den Niederlanden, in Schweden oder Deutschland. Für Muttersprachler*innen anderer Sprachen wie beispielsweise romanischer Sprachen ist Englisch auch trotz der verhältnismäßig einfachen Grammatik deutlich schwieriger zu lernen. Die Sprecher*innen romanischer Sprachen wie Französisch oder Italienisch hätten sicher gegen Spanisch als Lingua Franca, das ebenfalls als eher leicht zu erlernen gilt, nichts einzuwenden.

Englisch als einzige und universelle Lösung für die Grenzen, die in Europa teilweise durch Sprachbarrieren entstehen, anzubieten, ist allerdings zu einfach. Sprache ist eins der wichtigsten Mittel zur Übermittlung von Kultur; in Büchern, Filmen, Musik und Serien spiegelt Sprache Weltsichten, Werte und Lebensweisen wieder. Da ein Großteil der englischsprachigen Filme und Serien aus den USA kommt, birgt Englisch als europäische Verkehrssprache das Risiko, dass die US-amerikanische Kultur in Europa zumindest teilweise unkritisch übernommen wird. Obwohl Netflix und Co. inzwischen einige europäische und nicht-englischsprachige Produktionen im Angebot haben, könnte Englisch diesem Trend entgegenwirken: Die Serie auf Italienisch oder Polnisch würde europaweit zum Exotenprodukt, und vielleicht wüssten wir mehr über den American Way of Life als über das französische Savoir Vivre. Das wäre nicht nur eine Einschränkung unseres eigenen kulturellen Horizonts, aber vor allem eine Einschränkung unseres Verständnisses füreinander.

Sprachen transportieren Konzepte, die kulturell gewachsen sind und die in manchen Sprachen existieren oder eben nicht. Natürlich können deutsche Beamt*innen mit ihren französischen Kolleg*innen auf Englisch verhandeln und über die Zukunft der Europäischen Union nachdenken; und doch werden unabhängig von ihrem Sprachniveau Konzepte und Nuancen verlieren gehen, die einen nicht unwichtigen Teil von Kommunikation ausmachen, nämlich interkulturelles Verständnis. Hier geht es nicht mehr um Wörter, sondern um den Kontext, in dem sie verwendet werden, um das, was ein*e Sprecher*in zwischen den Zeilen sagen will. Sprache ist mehr als Wörter, aber das erkennen wir nur an, wenn wir Mehrsprachigkeit konsequent fördern.

Kein „Entweder Oder“ - Europa braucht das sprachliche Komplettpaket

Der französische Präsident Emmanuel Macron hat 2017 in seiner Sorbonne-Rede angekündigt, dass er sich wünscht, dass jede*r Student*in in Europa mindestens zwei europäische Sprachen spricht. Diejenigen, die den Französischunterricht in der Schule immer als Belastung und nicht als Bereicherung empfunden haben, rollen spätestens jetzt mit den Augen. Provokativ: „Was bringt es mir, wenn ich Französisch kann, aber es ohnehin nur im Urlaub nutzen würde, und da können Leute dann ja mit mir Englisch reden?“ Man solle statt Fremdsprachen doch besser mehr Physik oder Biologie unterrichten, so das Argument. Ich will diesen Fächern ihre Relevanz nicht absprechen, ganz im Gegenteil - aber wer wie oben argumentiert, der muss sich auch die Gegenfrage gefallen lassen, was es jemandem bringt, über Wochen die Mendel’schen Vererbungsregeln an Meerschweinchen zu lernen, wenn er*sie nicht gerade in die Meerschweinchenzucht einsteigen will und es ihm*ihr bei der Partner*innenwahl nicht primär um potentiell rote Haare hypothetischer Kinder geht.

Doch an dieser Stelle soll es nicht um Lehrpläne in Schulen gehen, sondern darum, wie wir in einem Europa ohne Grenzen leben wollen. Immer mehr Menschen leben oder arbeiten in einem anderem Mitgliedstaat als in dem, dessen Staatsbürgerschaft sie haben, der Binnenmarkt erlaubt freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen. In diesem Kontext kann eine gemeinsame Verkehrssprache dazu beitragen, die ganz offensichtlichen Sprachbarrieren zu beseitigen. Aber das als ausreichend für die europäische Verständigung zu betrachten, wäre ein schändlicher Fehler und ein Schlag ins Gesicht für die kulturelle Vielfalt Europas. Sprach-und Kulturwissenschaftler*innen betonen immer wieder,dass kulturelles Verständnis ohne Kenntnis der darunter liegenden Sprachen kaum möglich ist. Wenn wir 23 Sprachen vernachlässigen und nur eine einzige fördern, bedeutet das in der Folge, dass wir vielleicht verstehen, was wir sagen, aber nicht mehr, was wir meinen: An die Stelle einer sprachlichen Grenze tritt eine kulturelle. Wenn wir die Idee eines grenzenlosen und geeinigten Europas leben wollen und Menschen jeder sozialen Herkunft davon profitieren sehen wollen, müssen wir aber hier ansetzen. Gegenseitiges politisches und wirtschaftliches Verständnis erfordert kulturelles Verständnis. Die Schlüssel dazu im multikulturellen Europa kann nur konsequente Mehrsprachigkeit heißen.

Ihr Kommentar
  • Am 23. Juli 2019 um 10:05, von  Louis v. Wunsch-Rolshoven Als Antwort Warum Sprache mehr ist als Wörter

    Der Artikel erwähnt Esperanto als Beispiel für die Forderung nach einer einzigen einheitlichen Verkehrssprache. Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass wohl kein Esperanto-Sprecher irgendetwas dagegen hat, dass die Bürgerinnen und Bürger Europas außer Esperanto auch andere Sprachen lernen und benutzen. Es ist sogar so, dass Esperanto-Sprecher im Schnitt mehr als drei Fremdsprachen sprechen, Esperanto und zwei weitere nationale Sprachen; das ergaben jedenfalls vier Studien zur Soziologie der Esperanto-Sprachgemeinschaft, die von Nikola Rašić in „La Familia Rondo“, 1994, vorgestellt werden; das ist auch sehr nachvollziehbar, wenn man selber Esperanto-Sprecher zu ihren Fremdsprachen befragt. Die Esperanto-Sprecher liegen damit deutlich vor den sprachgewandten Niederländern und Luxemburgern, die im Schnitt etwa zwei Fremdsprachen beherrschen.

    Der Deutsche Esperanto-Bund hat schon 1987 in seiner Erklärung von Rastatt sehr klar gemacht, wie wichtig uns Esperanto-Sprechern andere Sprachen sind: „Der Deutsche Esperanto-Bund befürwortet das Erlernen fremder Sprachen. Er fordert die Kultusminister auf, den Sprachunterricht in den Schulen dahingehend zu erweitern, dass die Sprachenvielfalt vermehrt wird. Insbesondere die Sprachen der EG-Länder, möglichst aber alle wichtigen Verkehrssprachen sollen angeboten werden. In Grenzregionen ist auch die Sprache des jeweiligen Nachbarlandes anzubieten.“

    Man kann auch feststellen, dass Esperanto-Sprecher gerade durch Esperanto in viele Länder reisen (die internationalen Kongresse finden z. B. jedes Jahr in einem anderen Land statt). Dabei lernen sie auch die dortigen Kulturen kennen und lernen oft auch ein wenig die entsprechenden Sprachen. Ich bin zum Beispiel oft in Polen gewesen und habe mich mit Polinnnen und Polen auf Esperanto unterhalten; bei meinen Reisen habe ich auch immer ein wenig Polnisch gelernt. (Ansonsten spreche ich ein paar westliche Sprachen.)

    Ansonsten: Es ist natürlich richtig, dass sowohl Englisch als auch Esperanto als „relativ leicht erlernbar“ gelten. Allerdings gibt es riesige Unterschiede zwischen diesen beiden Sprachen: Esperanto ist in etwa einem Viertel der Zeit zu erlernen, die man für Englisch braucht. Die Hälfte der befragten Esperanto-Sprecherinnen und -Sprecher haben nach etwa 20 Lernstunden mit der Esperanto-Sprachpraxis anfangen können; mehr als 50 Lernstunden braucht praktisch niemand - den Rest lernt man meist bei internationalen Veranstaltungen. Das ist schon ein Riesen-Vorteil von Esperanto und deshalb lernt so mancher außer Englisch auch Esperanto.

  • Am 3. November 2019 um 17:56, von  Michael Scherm-Markow Als Antwort Warum Sprache mehr ist als Wörter

    Sehr geehrte Frau Weber,

    meine erste fremde und mir weitgehend fremd gebliebende Sprache war Latein, die zweite Englisch. Als Bayer tat ich mir in der Aussprache schwer, da war Französisch - auch Italiensich - leichter. Frei sprechen konnte ich und kann ich aber nur in Esperanto. In dieser Sprache kann man es auf ein sehr hohes Niveau bringen. Zudem kann man wortschöpferisch, kreativ sein, was den Wert des Esperanto steigert und den Spaß vergrößert.

    Mit freundl. Gruß! M.Scherm-Markow

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