Wenn Marine Le Pen von der Öffentlichkeit als pro-europäisch bezeichnet wird, mag das manch einen wundern. Auch wenn sie ihr Image durch abgeschwächte Meinungen aufzupolieren versucht und ihren Aussagen wenig Taten folgen lässt, fällt einiges in der allgemeinen intellektuellen Verwirrung über unser heutiges Europa kaum auf. So hat Bernard Monot, Abgeordneter im Europäischen Parlament für den Front National, in der Sendung „500 Millionen Europäer“ unbemerkt erklären können, dass „Großbritannien keinen Grund hat aus der Europäischen Union auszutreten. Sie haben genau das Privileg der Ausnahme, das wir für das Frankreich von Marine Le Pen fordern: wir wollen unsere eigene Währung, unsere eigene Zentralbank, wir wollen unsere Grenzen, unser Budget und unser Bankensystem selbst kontrollieren“.
Wenn ständig Kompromisse gemacht werden, um alle und jeden im europäischen Boot zu halten, schaffen es auch anti-europäische Stimmen, sich als Pro-Europäer auszugeben. Die Grenze zwischen nationalistischen Aussagen und Meinungen politischer Größen, die man für pro-europäisch hielt, ist poröser geworden. Denn nicht selten ist deren Vision von Europa die eines starken Europäischen Rats, in dem die nationalen Führungsspitzen alle Entscheidungen treffen. Nicolas Sarkozy zum Beispiel führte die Grenzkontrollen zu Italien wieder ein als in Lampedusa die ersten großen Flüchtlingsgruppen ankamen. Würde Marine Le Pen nicht genau das tun, wäre sie an der Macht? Was unterscheidet die beiden dann eigentlich noch?
Natürlich würde Sarkozy den Euro nicht in Frage stellen. Die gemeinsame Währung scheint eines der letzten Symbole zu sein, das Pro-Europäer und Nationalisten spaltet. Die Anti-Europäer haben zum Teil verstanden, dass Europa eine Realität im Alltag der Bürger geworden ist. Die Eruopäer ärgern sich, wenn sie in ein Land der Europäischen Union reisen, das den Euro nicht hat, oder für Anrufe in ein anderes Land Extragebühren erhoben werden (das berühmte „roaming“). Die Grenzgänger beschweren sich über die Staus, die durch die Grenzkontrollen entstehen, die seit dem Ausnahmezustand wieder durchgeführt werden. Für eine komplette Abschaffung der EU spricht nichts mehr. Anti-Europäer sprechen angesichts der aktuellen Herausforderungen stattdessen einfach von einem „anderen Europa“ in dem alle glücklich werden können.
Staatenbündler gegen Föderalisten
Viele Europaskeptiker sind in den Medien gerne gesehen und werden als „vernünftige“ Pro-Europäer dargestellt. So zum Beispiel Hubert Védrine, der die EU regelmäßig angreift und den Integrationsprozess stoppen will anstatt in weiter auszubauen. Das berühmte „die europäische Bevölkerung ist nicht bereit“ wird häufig als alleiniger Grund angeführt, jegliche Debatte über die weitere Entwicklung der europäischen Einigung im Keim zu ersticken.
Die pro-europäischen Föderalisten werden hingegen als zu radikal abgestempelt. Wir seien „unvernünftige“ Pro-Europäer geworden, die „zu weit“ gingen. Jetzt, wo jeder pro-europäisch geworden ist, müssen wir hingegen darauf bestehen, dass die anderen pro-europäischen Stimmen, die nicht föderalistisch sind, als das bezeichnet werden was sie sind: Unterstützer eines Staatenbundes.
Wie Merkel oder Charles de Gaulle ein Europa der Staaten zu wollen oder wie Marine Le Pen ein Europa der Nationen, geht ideologisch in die gleiche Richtung: die Souveränität liegt auf nationaler Ebene, nationale Entscheidungsträger entscheiden darüber, was sie mit den anderen gemeinsam tun wollen. Die Föderalisten hingegen sind davon überzeugt, dass europäische Entscheidungen nicht von nationaler Souveränität abhängen sollen, sondern direkt von den europäischen Bürgern.
Die Debatte um Europa muss wieder auf die richtige Spur gebracht werden: Staatenbund oder Föderalismus? Keine leichte Übung, denn die (europäischen und nationalen) politischen Parteien vermischen beides. Wenn wir nicht aktiv werden, besteht die Gefahr, dass die Anti-Europäer den Kampf der Bezeichnungen gewinnen. Und damit die nächsten Wahlen.
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