Lasst uns die Spitzenkandidat*innen sichtbar machen!
2014 wurden zum ersten Mal Spitzenkandidat*innen für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission von den europäischen politischen Parteien nominiert. Das ist eine demokratische Verbesserung: Die Bürger*innen Europas haben nicht nur direkt die MEPs (Repräsentant*innen im Europäischen Parlament) gewählt, sondern indirekt auch den Präsidenten oder die Präsidentin der Kommission, denn, wie es im Artikel 17(7)TEU steht, muss der Europäische Rat die Ergebnisse der Europawahlen berücksichtigen, wenn er einen Kandidaten als Präsidenten der Kommission vorschlägt, der dann vom Parlament gewählt wird. Deshalb ist Jean-Claude Juncker zurzeit Präsident der Kommission: Die EPP, deren Spitzenkandidat er war, hat in den Wahlen den größten Anteil erzielt.
Den demokratischen Prozess verbessern und dabei die Bürger*innen Europas mit politischen Personen, die mit bestimmten politischen Parteien, Ideen, Programmen und Visionen über die Zukunft Europas verbunden werden, repräsentieren. Der Europäischen Kommission mehr demokratische Verantwortung geben und sie den Bürger*innen näher bringen. Die Europawahlen im demokratischen Sinne europäisieren, um „dabei zu helfen, einen gemeinsamen europäischen politischen Raum zu schaffen, in dem Wähler*innen eine informierte Entscheidung über die zur Wahl stehenden Parteien treffen können“. [1]
Leider hat die Einführung von Spitzenkandidat*innen ihr Ziel der größeren Wahlbeteiligung nicht erreicht.
Man kann die EU kaum den Bürger*innen näher bringen, wenn ihre Repräsentant*innen nicht gezeigt werden. Das ist 2014 passiert: Weniger als die Hälfte der Europäer*innen wusste von der Existenz und/oder kannte die Namen der Spitzenkandidat*innen und deren Verbindung zu den europäischen politischen Parteien, und manche Länder zeigten ein sehr niedriges öffentliches Bewusstsein für das Thema. [2] Dasselbe gilt für die Verbindung dieser europäischen Parteien zu nationalen politischen Parteien. Die nationalen politischen Parteien sind besser bekannt und werden besser erkannt: Wenn sie sich während der Wahlkampagne 2014 die Mühe gemacht hätten, ihre Zugehörigkeit zu einer europäischen Familie zu erklären, wenn sie sich die Mühe gemacht hätten, ihrer Kampagne eine europäische Dimension zu geben und über europäische Themen zu reden, hätte das Interesse und Verständnis der Bürger*innen erhöht werden können, und so auch die Wahlbeteiligung. Und die politischen Parteien sind nicht die einzigen, die daran schuld sind: Auch die fehlende Behandlung des Themas in den Medien oder die “Nationalisierung” der Berichterstattung in den Medien müssen erwähnt werden.
Natürlich haben sich nicht alle politischen Parteien und Medien in allen EU-Ländern so verhalten, aber der Trend kann leider bei vielen von ihnen beobachtet werden (wie Wissenschaftler*innen wie Sara B.Hobolt, Sebastian Adrian Popa oder Hermann Schmitt beobachtet haben).
“Obwohl die Kandidat*innen offiziell von den europäischen Parteien nominiert wurden, dominieren in den Wahlkampagnen immer noch die nationalen Parteien. Der Einfluss der führenden Kandidat*innen auf die nationalen Kampagnen war daher größtenteils davon abhängig, inwiefern die nationalen Parteiführenden und die nationalen Medien die europäischen Kandidat*innen in die nationale Kampagne involviert haben, und sie hätten starke Anreize, über innenpolitische Fragen zu streiten (zum Beispiel von der Opposition gegen die Regierung) und sich sogar bewusst gegen die Spitzenkandidat*innen zu stellen (wie es im Vereinigten Königreich und zu einem geringeren Grad in Italien passiert ist).” [3]
Und eines der anschaulichsten Beispiele dafür ist Frankreich.
Das lehrreiche Beispiel der französischen Kampagne, die nicht wiederholt werden darf
Nach den Europawahlen 2014 schrieben die italienischen und französischen Wissenschaftler*innen Olivier Rozenberg und Andrea Spitaleri einen Bericht, in dem sie sich mit den Fehlern der Wahlkampagne beschäftigen, indem sie die auf nationaler Ebene Verantwortliche für die fehlende europäische Dimension der Wahlen aufzeigen, die dazu beigetragen haben, dass sowohl die Wahlen als auch die Funktionsweise der EU nicht verstanden wurden. Erinnern wir uns daran, dass das Innenministerium die Wahlkampagne erst zwei Wochen vor den Wahlen begann, was eine viel zu kurze Zeitspanne ist, um die Themen der Wahl korrekt abzudecken, den Wähler*innen die Programme, Parteien und Kandidat*innen zu präsentieren, und um genug Debatten zu führen.
Beginnen wir mit den nationalen politischen Parteien. Einige von ihnen haben versucht, eine europäische Wahlkampagne einzuleiten, indem sie europäische Themen aufgebracht haben: Die offen pro-Europa Grüne Partei (Europe Ecologie - Les Verts) und die zwei Parteien der Mitte (UDI - MoDem). Aber das Ausmaß, der Einfluss und die Präsenz dieser Kampagnen waren im Vergleich zu den großen Parteien klein und ihre politische Nachricht war vermutlich zu vage, zu allgemein und nicht einprägsam genug.
Aber was noch mehr gestört hat, war die Haltung der rechten Oppositionspartei (die UMP Partei), die die Wahlkampagne als Gelegenheit genutzt hat, um mit der sozialistischen Partei (PS) abzurechnen. Die UMP nutzte “Sag nein zu François Hollande” als Slogan für ihre Kampagne. Man könnte eigentlich erwarten, dass die Kampagne für die Europawahlen europäische Themen behandelt, immerhin werden die gewählten Repräsentant*innen innerhalb der europäischen Institutionen Regeln zu europäischen Themen aufstellen und damit europäische Politik und Richtlinien für die nächsten fünf Jahre gestalten. Stattdessen nutzte die UMP sie dazu, sich mit einer anderen nationalen Partei zu zanken. Diese Haltung kann der Qualität der Debatten und der europäischen Dimension der Wahlen nur schaden.
Zu dieser Haltung zählt auch die Unwilligkeit von PS und UMP, europäische Themen anzusprechen und wenn überhaupt, dann auf EU-kritische Weise (zum Beispiel Sparmaßnahmen, “auferlegte Einwanderung”, Kritik an EU-Vergrößerung...). Natürlich ist die EU nicht perfekt, aber Kritik sollte in Debatten entwickelt werden und nur, wenn gleichzeitig auch konkrete Lösungen und Reformen für die Zukunft Europas vorgeschlagen werden.
Nebenbei machte sich eine Partei sogar einen Spaß daraus, die EU herabzuwürdigen: Die Front National (FN), die während der Kampagne mit einer stark europaphoben Haltung im Mittelpunkt stand, präsentierte die EU (wie immer) als eine undemokratische Einrichtung von ungewählten Bürokrat*innen, die die nationale Unabhängigkeit bedrohe und gefährliche Einwanderungswellen mit sich bringe. “Nein zu Brüssel, Ja zu Frankreich”, “Die Europäische Union zerstört, die Nation beschützt!”, “Lasst uns Frankreich wiedererwecken, die Gefängniswärter, habgierigen Bänker und ungewählten Kommissare loswerden”, das sind Zitate und Slogans der FN während der Kampagne.
In diesem Kontext waren auch die französischen Medien nicht hilfreich. Pro-Europa und föderalistische Bewegungen beschweren sich oft, dass Europa nicht genug in den Medien abgedeckt wird. 2014 hat die öffentlich-rechtliche Fernsehanstalt Frankreichs, France Télévisions, sich ganz einfach geweigert, die Debatte der Spitzenkandidat*innen am 15.Mai im Fernsehen auszustrahlen. Das führte zu der Veröffentlichung eines Artikels mit dem Titel “France Télévisions sollte die europäische Debatte nicht zensieren”. Der Artikel wurde von französischen Persönlichkeiten wie MEP Kandidat*innen der Europawahl, oder Mitgliedern von Expert*innenkommissionen und von pro-europäischen Organisationen, darunter die Präsident*innen der Jungen Europäischen Föderalisten (JEF Europe) und der JEF Frankreich, unterschrieben. Eine Online-Petition mit dem Titel “Mehr Europa im Fernsehen bedeutet weniger Populismus in den Wahlurnen” sammelte 12.408 Unterschriften.
Am 2.Mai, vor der Debatte der Spitzenkandidat*innen, schrieb Jon Worth, der ehemalige JEF Europa Präsident für The New Federalist:
“Jetzt ist es die Aufgabe der Medien, etwas zu tun. Wenn es Kandidat*innen gibt, müssen die Leute, die wirklich vorhaben zu wählen, wissen, was gerade passiert. In den meisten EU-Ländern ist es üblich, die nationalen Wahlen durch TV Debatten zu unterstützen, und dasselbe wird mit den Spitzenkandidat*innen geschehen.”
Was kommt jetzt?
Es gibt bereits Lösungsvorschläge. Im September 2015 hat das Europäische Parlament einen Report über die Reform der Wahlgesetze der EU veröffentlicht, in dem sie eine Vielzahl an Möglichkeiten für die Lösung dieser Probleme vorschlägt. Einer der interessantesten Vorschläge ist meiner Meinung nach, die Verbesserung des Spitzenkandidat*innen-Verfahrens und der europäischen Parteien, indem man zum Beispiel die nationalen Parteien verpflichtet, ihre zugehörigen europäischen Parteien nach dem Prinzip von “gleicher Sichtbarkeit” auch auf dem Wahlzettel anzugeben. Bis jetzt war der Europäische Rat leider eine Blockade für solche Reformen. Pro-Europa Bewegungen, Bürger*innen und Persönlichkeiten sollten daher diese Fragen gegenüber ihren nationalen Parteien und Repräsentant*innen aufbringen, um sie dazu zu bringen, Verantwortung für die Zukunft Europas zu übernehmen. Organisationen wie die JEF müssten ihre Bemühungen, europäische Themen vor der Wahl 2019 in die Öffentlichkeit zu bringen, verdoppeln. Das ist von entscheidender Bedeutung für die Zukunft der Integration Europas.
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