Wie kann die europäische Integration der baltischen Staaten aussehen?

, von  Théo Boucart, übersetzt von Annika Klein

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Wie kann die europäische Integration der baltischen Staaten aussehen?
Hanseatische Bauten in der Altstadt von Riga, der Hauptstadt Lettlands, dem einzigen Land, das sich als „baltisch" bezeichnen könnte. Foto: Stéphanie-Fabienne Lacombe für Treffpunkteuropa.de

Der europäische Horizont als Zukunft, der russische Horizont als Erinnerung: Die regionale Integrationsstrategie Estlands, Lettlands und Litauens ließe sich in diesen beiden Sätzen zusammenfassen, wenngleich sie vielleicht stark vereinfachend sind. Anlässlich des 100. Jahrestages der Unabhängigkeit der drei baltischen Staaten im Jahr 2018 und der erfolgreichen EU-Ratspräsidentschaft Estlands werfen wir heute einen Blick auf die politischen und ideologischen Entscheidungen, die getroffen wurden, um diese Gebiete in „Westeuropa" zu verankern.

Aber was sind eigentlich die „baltischen Staaten„? In Westeuropa und vielen anderen Teilen der Welt beziehen wir uns mit diesem Ausdruck auf drei kleine Länder an der nordöstlichen Küste der Ostsee: Litauen, Lettland und Estland. Mit circa 175.000 km² entspricht die Gesamtfläche der drei Länder in etwa der Hälfte des deutschen Staatsgebietes, ihre Gesamtbevölkerung ist dabei jedoch nur so groß wie die der Metropolregion Berlin/Brandenburg (6 Millionen Einwohner). Es handelt sich folglich um eine in Westeuropa relativ unbekannte Region. Die drei hier behandelten Länder kennen beziehungsweise benutzen derweil den Ausdruck „baltische Staaten“ (oder „Baltikum“) nicht. Einem Anfang dieses Jahrhunderts nach Berlin entsandten estnischen Diplomaten zufolge existierten die „baltischen" Staaten überhaupt nicht [1].

In der Tat handelt es sich um drei kulturell sehr unterschiedliche Länder, die das „Pech„haben, klein und abgelegen zu sein, wie eine „Halbinsel des Schengen-Raums“. Diese Länder sehen es jedoch ungern, wenn sie wie so oft in den gleichen Topf geworfen werden, da die einzigen Momente in der Geschichte, in denen sie „vereint" waren, die erzwungenen Eingliederungen ins Russische Reich und in die UdSSR waren. Letztere Besatzung ist allerdings nicht offiziell anerkannt, weswegen 2018 offiziell das hundertjährige Jubiläum ihrer Unabhängigkeit gefeiert wird. Die mehrere Ebenen umfassende Integration dieser drei Länder spiegelt deren brennenden Wunsch wider, zu Westeuropa zu gehören und Russland den Rücken zuzukehren, auch auf die Gefahr hin, geopolitische Identitätsspannungen auszulösen. Während die Kooperation zwischen den baltischen Ländern eher begrenzt ist, ist deren Beteiligung an der Integration im Ostseeraum sowie auf europäischer und atlantischer Ebene sehr intensiv.

Schutz nationaler Identitäten verhindert subbaltische Zusammenarbeit

Die Bedeutung der nationalen Identität ist wesentlich für das Verständnis des Staatsaufbaus der baltischen Länder. Wie auch anderswo in Mittel- und Osteuropa ging die Idee einer kulturellen und sprachlichen Nation der Schaffung eines Staates voraus — im Gegensatz zu Westeuropa und insbesondere Frankreich, wo es der Staat war, der die französische Identität prägte und sogar regionale Besonderheiten energisch unterdrückte. Diese Identität wurde auch in Opposition zur politischen und kulturellen Vorherrschaft Russlands und Deutschlands im 19. Jahrhundert aufgebaut und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von sowjetischen Behörden unterdrückt. Dies verleiht der nationalen Identität eine einzigartige Stärke. Als Litauen, Lettland und Estland 1990 ihre Unabhängigkeit wiedererlangten, hatte der Schutz der litauischen, lettischen beziehungsweise estnischen Identität absolute Priorität. Dies hat sicherlich eine stärkere Zusammenarbeit zwischen den drei Ländern verhindert.

Der schwachen subbaltischen Kooperation steht die individuelle Suche der drei Länder nach alten Verbindungen zu den aus kultureller und geschichtlicher Sicht nahen Gebieten gegenüber. Estland ist bestrebt, seine sehr engen Beziehungen zu Finnland und Schweden wiederherzustellen, um als „nordisches" Land gesehen zu werden. Litauen hingegen versucht, die Beziehungen mit Polen wiederaufzunehmen, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bestanden haben. Das Baltikum scheint daher aus strategischer Sicht nicht lokal begrenzt zu sein. Entlang der Grenzen der drei Länder findet jedoch eine Art lokale Zusammenarbeit statt. Die entwickelten Projekte zielen darauf ab, Lösungen für lokale Probleme wie Umweltverschmutzung zu finden oder die Infrastruktur zu verbessern. Das bekannteste Projekt ist das Projekt in Valga-Valka an der lettisch-estnischen Grenze. Auch entlang des Flusses Šventoji zwischen Litauen und Lettland sind lokale Projekte ins Leben gerufen worden.

Die Ostsee, ein gemeinsamer und privilegierter Horizont auf Kosten interner Spannungen

Eine der wenigen Gemeinsamkeiten zwischen den drei baltischen Staaten ist schließlich die wichtige Ostseeküste. Das beinahe geschlossene Meer gerät einerseits aus dem Blickwinkel der europäischen Metropolen und Netzwerke und befindet sich andererseits als eine Art „Mare nostrum" Nordeuropas im geographischen Zentrum der Europäischen Union. Es hat sich ein dichtes Netz der Zusammenarbeit entwickelt, wofür der Ostseerat (engl. Council of the Baltic Sea States, CBSS) das beste Beispiel ist. Diese Struktur ist sehr wichtig für die baltischen Länder, die es geschafft haben, ihren Übergang zur Demokratie und Marktwirtschaft zu konsolidieren. Es gibt jedoch noch viele andere regionale Organisationen wie die Euroregion Baltic, die B7 (die sieben größten Inseln in der Ostsee, darunter zwei estnische Inseln) und die Union der Ostseestädte (insgesamt mehr als 100 Städte in den Anrainerstaaten).

Der Wunsch der Regierungen der baltischen Staaten, sich in die westeuropäischen Strukturen zu integrieren, wird zwar weitgehend von der öffentlichen Meinung unterstützt, sorgt jedoch auch für Frustration bei marginalisierten Bevölkerungsgruppen, allen voran die russischsprachige Minderheit. In Estland und Lettland stellt die russischsprachige Minderheit etwa 25% der Bevölkerung dar. Litauen grenzt derweil direkt an das Oblast Kaliningrad, ein isoliertes und strategisch wichtiges Territorium Russlands. Die EU und Russland streben eine Zusammenarbeit im Rahmen der ENP an, es gibt jedoch viele administrative Schwierigkeiten und gegenseitiges Misstrauen zwischen den Behörden. In der russisch-baltischen Zusammenarbeit gibt es daher einige Hindernisse, was die Geopolitik der Länder sowie die Identität der Bevölkerung angeht.

Die Europäische Union und die NATO als zwei untrennbare Ziele

Im September 1991 erkannte die UdSSR die Unabhängigkeit der drei baltischen Staaten an und markierte damit den Beginn ihrer eigenen Auflösung. Die drei Staaten beantragten daraufhin fast zeitgleich die Mitgliedschaft in der EU und der NATO. Im Geiste der baltischen Staats- und Regierungschefs konnte die Mitgliedschaft in den beiden Organisationen, die 2004 wirksam wurde, nicht getrennt erfolgen, da die EU die wirtschaftliche Integration und die NATO den militärischen Schutz der USA repräsentierte. Mit den Beitritten sollte eine Lösung für das Hauptanliegen der baltischen Länder gefunden werden: das mögliche Wiederaufleben des russischen Irredentismus. Gleichzeitig sollte durch die Marginalisierung der russischsprachigen Bevölkerungsgruppen ein zu großer Einfluss des Kreml vermieden werden.

Welche Bilanz kann man fast 14 Jahre nach dem EU-Beitritt für die baltischen Staaten ziehen? Insgesamt ergibt sich ein recht gemischtes, wenn auch trotz allem positives Bild. Indem sie Teil des Schengen-Raums und der Währungsunion sind, gehören die drei Länder zu den am stärksten integrierten Mitgliedern der EU. Dennoch trug die Bereitschaft der Länder, in den 1990er Jahren die äußerst strengen Regeln des Neoliberalismus zu befolgen, zu ihrem Zusammenbruch infolge der Finanzkrise bei. Lettland war beispielsweise mit einem Rückgang seines BIP um 15% besonders betroffen. Das Land beantragte daraufhin finanzielle Unterstützung durch den IWF. Die geringe Beteiligung an den Europawahlen ist ferner ein Zeichen dafür, dass es keine öffentliche Meinung zu Europa gibt und dass die baltischen Bürger der Idee der europäischen Demokratie relativ gleichgültig gegenüberstehen.

Trotz ihres geringen demographischen und geopolitischen Gewichts versuchen die baltischen Staaten, die Richtung der GASP und der ENP insbesondere in den Beziehungen zu Russland zu beeinflussen. Die baltischen Staaten haben sich beispielsweise für die militärische Integration in Europa ausgesprochen, insbesondere seit Donald Trump Präsident der USA ist. Sie haben auch wichtige Verbindungen zu den GUAM-Ländern (Georgien, Ukraine, Aserbaidschan und Moldawien), mit denen sie ihre Erfahrungen aus dem erfolgreichen Übergangsprozess zwecks Anschluss an den Westblock teilen, um so eine Art Sicherheitsgürtel um Russland herum zu schaffen.

Der starke Wunsch Litauens, Lettlands und Estlands, sich in Westeuropa zu verankern, spiegelt zwei sich ergänzende Logiken wider: erstens eine Logik der Sicherheit und der politischen Stabilität durch die Integration in die NATO und die GASP im Falle einer russischen „Bedrohung„, und zweitens eine Logik der „Identität“. Dies ist vor dem Hintergrund zu betrachten, dass die baltischen Staaten ein starkes Nationalbewusstsein haben, das von den Sowjets unterdrückt wurde, und dass die Integration in die EU und den Ostseeraum ihre Zugehörigkeit zur „westeuropäischen“ Zivilisation unterstreicht. Dieser Aspekt nimmt durch die Marginalisierung der russischsprachigen Bevölkerung sogar Züge ideologischer Konfrontationen an, was die Beziehungen zu Russland nicht erleichtert. Über die wirtschaftliche Sicherheit, insbesondere in Bezug auf die Energieversorgung und die Bereitschaft, die Marktwirtschaft als hohen „westlichen" Wert anzunehmen, liegt die wirtschaftliche Integration den ersten beiden Logiken zugrunde.

[1] Für einen Gesamtüberblick über die baltischen Länder und insbesondere deren Wandel nach dem Kommunismus siehe Susanne Nies, Les États baltes: une longue dissidence, Armand Colin, 2004.

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