Diese zweifellos brisante Frage wurzelt in der derzeitigen Gemengelage auf den internationalen Märkten. Dort sieht sich das (ordo-)liberale Marktordnungsprinzip der EU mit dem Aufstieg eines von China zur Perfektion getriebenen und von den USA inzwischen in Ansätzen übernommenen staatszentrierten Marktordnungsprinzip konfrontiert. Dabei ziehen vor allem staatliche Subventionen und Marktzugangsbeschränkungen von chinesischer Seite internationale Wettbewerbsverzerrungen nach sich, die mit Nachteilen für europäische Unternehmen auf internationalen Märkten einhergehen.
Um die heimische Wirtschaft im internationalen Wettbewerb zu stärken -– und indirekt wohl auch, um nicht mit ihrer wirtschaftlichen Macht gleichsam ihre politische Macht zu verlieren – war es in der Vergangenheit ein wichtiges Ziel der EU, die chinesische Wirtschaftspolitik in Einklang mit dem europäischen Modell zu bringen. So erhob sie Forderungen nach einem „fairen“ Wettbewerb, in offiziellen Papieren oft als „level playing field“ bezeichnet. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, verwies sie auf die halb Handreichung, halb Drohung der Reziprozität.
Insbesondere in ihrem zuletzt veröffentlichten Papier zur Strategie der EU gegenüber China schlug die Kommission einen schärferen Ton an. Im Rahmen des EU-China-Gipfels, der am 9. April in Brüssel stattfand, hat China mit der Ankündigung umfangreicher Zugeständnisse in Richtung eines fairen Wettbewerbs auf die Kritik der Kommission reagiert. Ob diesen Worten Taten folgen werden, bleibt abzuwarten. Bisherige Versuche, Einfluss auf die Wirtschaftspolitik der Kommunistischen Partei geltend zu machen, waren in der Vergangenheit zumindest gescheitert. Sowohl im Rahmen multilateraler Foren – wie in der Welthandelsorganisation – als auch bilateraler Verhandlungen konnte man China nicht davon überzeugen, seine Märkte für ausländische Unternehmen zu öffnen und übermäßige Subventionen eigener Unternehmen zu reduzieren.
Zuletzt sucht deshalb eine durch Forderungen der Gründungsmitglieder Frankreich und Deutschland aufgekommene Debatte, die sich an der von den EU-Wettbewerbshüter*innen untersagten Fusion von Siemens und Alstom entzündete, in einer europäischen Industriestrategie, die mit einer Reform des europäischen Wettbewerbsrechts einherginge, eine Lösung für die Problematik, dass europäische Unternehmen im Wettbewerb mit chinesischen benachteiligt sind.
Theoretische Leitbilder der Wettbewerbsordnung: Ergebnisoffen vs. ergebnisorientiert
Wie der klassische Ökonom und Wegbereiter des Liberalismus Adam Smith 1776 in „The Wealth of Nations“ schrieb, fördere das eigennützige Handeln der Einzelnen durch die unsichtbare Hand der Märkte das Gemeinwohl – unter der Voraussetzung, dass der*ie Einzelne in seinen*ihren Handlungen frei sei. Der Wettbewerb ist damit zum konstitutiven Element einer jeden marktwirtschaftlichen Ordnung geworden. Allerdings führt das freie Spiel der Märkte genauso natürlich zu Gewinn, Innovationen und Wachstum wie auch unvermeidlich zu Ungleichgewichten in Form von Marktkonzentrationen und Monopolen, die die Freiheit des Individuums potentiell gefährden.
Die Frage, ob der Staat regulierend in den Wettbewerb eingreifen sollte, hat deshalb ganze Bibliotheken gefüllt. Dennoch scheiden sich bis heute die Geister an der Frage, ob und wenn ja, wie der Wettbewerb vom Staat gestaltet werden sollte. In der Beantwortung dieser Frage stehen sich im Wesentlichen ergebnisoffene und ergebnisorientierte Konzepte gegenüber.
Ergebnisoffene Konzepte stellen den Wettbewerb als solchen in den Mittelpunkt. Für sie bedeutet der Wettbewerb mehr als nur die Erreichung einer effizienten Marktallokation, wie sie von Adam Smith prophezeit wurde, nämlich vor allem den Schutz des Einzelnen vor der wirtschaftlichen Macht anderer Wirtschaftsakteure und der des Staates. So müsse der Wettbewerb optimiert werden, indem Kartelle und die Ausnutzung einer dominanten Marktstellung verboten und Fusionen und Beihilfen kontrolliert werden.
Ergebnisorientierte Ansätze hingegen sehen im Wettbewerb ein Mittel zum Zweck und verfolgen mit ihm ex ante definierte Ziele. Auch dieser Ansatz geht auf eine längere Tradition zurück. John Maurice Clark, der in den USA 1961 das Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs geprägt und damit ein Kernelement der keynesianischen Lehre vorweggenommen hat, kann als dessen wichtigster Vertreter gelten. Demnach definiert der Staat Allokationsziele, die durch das Wettbewerbsrecht verwirklicht werden sollen – niedrige Preise für Verbraucher*innen und die Schaffung von Arbeitsplätzen können hier als Beispiele genannt werden.
Ergebnisorientierte Ansätze wurden aber auch von Ökonom*innen, die staatliche Eingriffe in den Markt grundsätzlich ablehnen, formuliert. So plädiert etwa die Chicago School dafür, rechtliche Beschränkungen für den freien Wettbewerb entweder ganz abzuschaffen oder auf ein Minimum zu reduzieren, da Kartelle und Fusionen mit Effizienzsteigerungen zu rechtfertigen seien.
Grundsätzlich geht jedes Handeln eines Wirtschaftssubjekts auf dem Markt mit der Einschränkung der Freiheit eines*r anderen Marktteilnehmers*in einher. Die beiden Herangehensweisen für die Gestaltung des Wettbewerbs unterscheiden sich im Wesentlichen also darin, ob sie den Schutz der Freiheit der Einzelnen oder die Gemeinwohlziele, die der Wettbewerb hervorbringt, stärker in der Abwägung gewichten, die das Wettbewerbsrecht ist.
Das europäische Wettbewerbsrecht: Ein Rahmen für einen ergebnisoffenen Wettbewerb
Das Wettbewerbsrecht der EU, das bereits mit den Römischen Verträgen 1957 eingeführt wurde, soll Marktkonstellationen, die den Wettbewerb zum Nachteil der Wettbewerbsfreiheit übermäßig beeinträchtigen, verhindern. Es handelt sich hier also um ein vom Primat der Freiheit der Einzelnen ausgehendes Wettbewerbsregime, das einen im Vergleich zum Naturzustand optimierten Wettbewerb schaffen soll.
Das europäische Wettbewerbsrecht sieht allerdings eine Ausnahmeregelung vor: Diese erlaubt den Wettbewerb übermäßig einschränkende Kartelle, Beihilfen, Fusionen und den Missbrauch einer dominanten Marktposition nur in solchen Fällen, in denen diese durch Effizienzsteigerungen zum Wohle der Verbraucher*innen zu rechtfertigen sind, und nur dann, wenn der Wettbewerb auf dem betreffenden Markt dabei grundsätzlich erhalten bleibt. Die Entscheidung über eine solche Ausnahmeregelung liegt bei der Kommission, die wiederum in ihrer Auslegung des Wettbewerbsrechts vom Europäischen Gerichtshof überwacht wird.
Das chinesische Wettbewerbsrecht: Instrumentekasten für einen ergebnisorientierten Wettbewerb
In seinem „Anti-Monopoly Law“ hat China erst im Jahr 2007 im Rahmen seiner Marktreformen ein Wettbewerbsregime eingeführt. Im Gegensatz zum europäischen Wettbewerbsrecht basiert es auf einem ergebnisorientierten Wettbewerbskonzept. Explizit darin vorgesehen ist, dass Verhaltensweisen, die dem Schutz „legitimer Interessen im Außenhandel und der Außenwirtschaftsbeziehungen“ dienen, prinzipiell nicht mit dem Wettbewerbsrecht kollidieren. Auch technischer Fortschritt, Produktentwicklung, Effizienzsteigerungen oder Kostenreduzierung werden ausnahmslos geduldet.
Zusätzlich dazu wird das ergebnisorientierte Wettbewerbsrecht von den Behörden in für europäische Unternehmen nachteiliger Weise ausgelegt. Offenbar wenden sich die chinesischen Wettbewerbshüter*innen übermäßig gegen als den Wettbewerb in ungerechtfertigter Weise einschränkend befundene Operationen ausländischer Unternehmen, wie eine Studie des Bruegel Institut aus dem Jahr 2013 nahelegt. Die chinesischen Wettbewerbsbehörden nutzen das Instrumentarium des „Anti-Monopoly Law“ also dazu, Inflation zu bekämpfen und einheimische Unternehmen gegenüber ausländischen zu stärken.
Fazit: Wettbewerbspolitik der EU unter chinesischem Einfluss?
Das Dilemma, das der EU aus der Situation erwächst, dass im Rahmen des ergebnisoffenen ordoliberalen Wettbewerbsrechts europäische Unternehmen im Wettbewerb mit China zunehmend chancenlos sind, das Gleichziehen mit China aber mit der Aufgabe des Primats der individuellen Freiheit – zumindest im Wettbewerbsrecht – einherginge, hat man – wie es scheint – in der Kommission bereits für sich beantwortet: Seit den späten 1990er Jahren hat diese sich in ihrer Auslegung des Wettbewerbsrechts nämlich de facto einem ergebnisorientierten Ansatz immer weiter angenähert. Mit der Einführung eines sogenannten „more economic approach“ hat sie die Ausnahmeregelung der Effizienzrechtfertigung des Europäischen Wettbewerbsrechts instrumentell verallgemeinert und damit de facto das Gemeinwohlkonzept im Wettbewerb neu definiert, was von vielen Seiten kritisiert wird, da die Kommission als Exekutivorgan dafür im eigentlichen Sinne nicht mandatiert ist.
Deutschland und Frankreich haben mit ihrer Forderung nach einer Wettbewerbsrechtsreform nun eine intern seit langem gärende Debatte darüber wiederbelebt, ob dem in der Praxis von der Kommission bereits begonnenen Paradigmenwechsel im Recht gefolgt werden soll. Dafür wäre ein neuer EU-Vertrag vonnöten. Mit einer Reform der Fusionskontrollverordnung, an der die Fusion zwischen Siemens und Alstom gescheitert war, will die deutsche Regierung im Rahmen ihrer nächsten Ratspräsidentschaft von Juli bis Dezember 2020 diesen Prozess initiieren.
Der Eindruck drängt sich auf, dass der Druck, den China auf internationaler Ebene derzeit ausübt, in der EU dazu führt, dass die Gleichung aus individueller Wettbewerbsfreiheit und der Erreichung wirtschaftlicher Gemeinwohlziele neu justiert wird. Mit dem Ergebnis, dass das Telos der europäischen Wettbewerbsordnung, das seit jeder die individuelle Freiheit war, gegenüber den Gemeinwohlzielen wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit und mittelbar außenpolitischer Macht merklich an Gewicht verliert. Die Freiheit der Einzelnen steht im Zentrum des Liberalismus. Die Republik ist die politische Ordnung, in der dieses Prinzip realisiert ist. Nur sie kann Gemeinwohlziele definieren, die in die Freiheit der Einzelnen eingreifen. Die Verfasstheit der Europäischen Union lässt die Definition solcher Ziele allerdings derzeit nicht zu.
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