Die Illusion des kolumbianischen Friedens

, von  Theresa Bachmann

Die Illusion des kolumbianischen Friedens
Christos Stylianides, Mitglied der Europäischen Kommission, zuständig für Humanitäre Hilfe und Krisenmanagement (2. von links), bei seinem Besuch in der indigenen Gemeinde von La Palma im März 2018. Foto: European Union 2018 / Guillermo Legaria / Lizenz

November, 2016. Nach mehr als einem halben Jahrhundert bewaffnetem Konflikt, unterzeichnen der kolumbianische Staat unter Präsident Santos und die FARC-EP (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens – Volksarmee) den Vertrag „für stabilen und dauerhaften Frieden“ in Kolumbien. Santos erhält den Friedensnobelpreis und die Transformation einer der am längsten anhaltenden Bürgerkriege weltweit scheint – trotz vehementer Kritik an der „Vorzugsbehandlung“ von FARC-Kombattant*innen innerhalb Kolumbiens – greifbar nahe: „Kolumbien sendet heute eine Botschaft der Hoffnung an den Rest der Welt“, gibt die damalige EU-Außenbeauftragte Mogherini anlässlich der Unterzeichnung zu Protokoll. Fünf Jahre später ist Frieden für viele nach wie vor eine Illusion.

Die Bedeutung des Vertrages liegt nicht nur in der Länge und den katastrophalen Konsequenzen des Bürgerkrieges begründet, sondern auch in seiner Innovationskraft. So ist der kolumbianische Friedensvertrag nicht nur der erste weltweit mit einem expliziten Gender-Ansatz, zahlreiche Kapitel und Maßnahmen zielen unmittelbar auf die Förderung politischer Beteiligung historisch marginalisierter Gruppen (neben Frauen insbesondere die ethnische Bevölkerung, junge Menschen sowie die LGBTQI-Community) und der Zivilbevölkerung als Ganzes ab. Zugleich sieht der Vertrag vor, dass in den gewaltreichsten, ärmsten und am meisten vom Staat vernachlässigten Gebieten Kolumbiens prioritär eine umfassende Landreform umgesetzt werden soll. Unter maßgeblicher Beteiligung der dort lebenden Bevölkerung soll beispielsweise mithilfe von territorialen Entwicklungsprogrammen das enorme Gefälle zwischen Stadt und Land nachhaltig verringert werden (Colombia, 2016).

Kolumbien 2022: Wenig Frieden, mehr Gewalt

Fünf Jahre später ist national wie international nur noch wenig Optimismus übrig geblieben. 2018 gewann der rechtskonservative Gegner des Friedensabkommens Iván Duque die Präsidentschaftswahlen. Obwohl das Abkommen juristisch Verfassungsrang hat, ließ er bereits in seinem ersten Statement nach dem Wahlsieg verlauten, dass Frieden für alle Kolumbianer*innen „Korrekturen“ an dem Vertragswerk erforderlich machten. Zwar wurde der Vertrag nie formell nachverhandelt, allerdings erweisen sich kurz vor Ende der Präsidentschaft Duques die dadurch verstärkten Befürchtungen als begründet: So zeigen die Fortschrittsberichte zur Umsetzung des Friedensabkommens, dass die Implementierungsgeschwindigkeit sich nicht nur deutlich verlangsamt hat, sondern auch zentrale Maßnahmen wie die Landreform sowie die ethnischen und Gender-bezogenen Verpflichtungen besonders stark vernachlässigt wurden (Barometer Initiative et al., 2019, S. 71; Iniciativa Barómetro et al., 2021, S. 8). Millionen Opfer des bewaffneten Konflikts warten weiterhin auf Entschädigungen. Und erst Ende Januar 2022 stellte das kolumbianische Verfassungsgericht nach Klagen von ehemaligen FARC-Kombattant*innen fest, dass der kolumbianische Staat massiv gegen das Friedensabkommen verstößt.

Begünstigt wird diese Entwicklung durch eine dramatische Reduzierung des von Seiten des kolumbianischen Staates zur Verfügung gestellten Budgets. Hatte die Vorgänger-Regierung Santos für 2017 noch 6,7 Billionen kolumbianische Pesos (fast 1,5 Mrd. €) hierfür bestimmt, so sank diese Menge seither konstant auf ein neues Rekordminus von 0.78 Billionen (ca. 173,77 Mio. €) im Haushaltsentwurf für 2022. Letzterer sieht dabei kein Budget mehr für die Wahrheitskommission vor, deren Antrag auf Verlängerung die Duque-Administration nicht stattgeben möchte.




Besonders prekär ist die Lage dabei in den vom Krieg am meisten gebeutelten Regionen Kolumbiens. Mittlerweile ist dort nicht nur die Hoffnung auf Frieden der Enttäuschung und Frustration über die Untätigkeit des kolumbianischen Staates gewichen. Vielmehr macht sich angesichts zunehmender Gewalt und Konsolidierung bewaffneter Gruppen (je nach Region paramilitärische Gruppierungen, Drogen- und andere kriminelle Banden, die ELN- und EPL-Guerrillas sowie FARC-Dissident*innen) erneut die Angst breit. Besonders betroffen sind lokale Führungspersönlichkeiten, Unterstützer*innen des Friedensprozesses, Umwelt- und Menschenrechtsaktivist*innen sowie ehemalige FARC-Kombattant*innen, die häufig bedroht und in zunehmendem Maße auch gezielt ermordet werden – aktuell mehr als in jedem anderen Land weltweit (Global Witness, 2020, p. 6). Trotz zahlreicher nationaler wie internationaler Hilferufe, häufig unter dem Slogan „Nos están matando“ (Sie bringen uns um), herrscht weitestgehend Straflosigkeit. Zunehmende Schutzgelderpressungen, Vertreibungen und Traumata fordern zudem auch auf breiterer Ebene einen enormen Tribut von genau den Menschen, die durch den Friedensprozess in besonderer Weise gefördert und unterstützt werden sollen.

Zum fünften Jahrestag des Friedensabkommens weist daher nicht nur VN-Generalsekretär Guterres darauf hin, dass es zahlreiche „Feinde des Friedens“ gebe, auch EU-Außenbeauftragter Borrell hält fest, dass der Frieden „nicht in allen Teilen Kolumbiens wahr geworden ist. Die Sicherheitslage in abgelegenen und marginalisierten Gegenden bleibt kritisch und stellt heute die größte Herausforderung des Friedensprozesses dar.“ Aktuell scheint sich jedoch genau diese Sicherheitslage weiter zu verschlechtern – allein im Januar diesen Jahres wurden bereits 13 Massaker registriert sowie 13 weitere lokale Führungs-persönlichkeiten und Aktivist*innen ermordet, darunter ein 14-jähriger indigener Umweltaktivist.

Hinzu kommen die anstehenden Kongress- und Präsidentschaftswahlen, die in Kolumbien „traditionell“ mit erhöhter Gewalt und versuchter Einflussnahme durch die häufig als „Gruppen außerhalb des Gesetzes“ bezeichneten bewaffneten Akteure einhergehen. Ein Beispiel aus der Karibik-Region zeigt dies besonders deutlich: Im März werden erstmals 16 Vertreter*innen der Opfer des bewaffneten Konflikts als sogenannte „Friedensabgeordnete“ direkt in den Kongress gewählt, ein*e Vertreter*in für jede der 16 am meisten vom Konflikt betroffenen Regionen. In der Schwerpunktregion Sierra Nevada de Santa Marta – Serranía del Perijá strebt Jorge Rodrigo Tovar Vélez dieses Amt an, der Sohn von „Jorge 40“, einem der gefürchtetsten Chefs der paramilitärischen AUC, der für tausende Tote, Massaker und Vertreibungen in der Region verantwortlich zeichnet. Während der Nationale Wahlrat derzeit die Kandidatur auf Rechtmäßigkeit überprüft, äußerten sich Opfer-Vertreter*innen empört und stellen infrage, auf welcher Grundlage der kolumbianische Staat Tovar, der sich nie von den Verbrechen seines Vaters distanziert hat, als Opfer des bewaffneten Konflikts anerkannt hat.

Die Rolle Europas und der Welt im kolumbianischen Friedensprozess

Internationale Akteure haben den Friedensprozess nicht nur eng begleitet, sondern von Anfang an entschieden befürwortet und entsprechend unterstützt. Zusätzlich zum starken Engagement einzelner Staaten, insbesondere Schweden, Deutschland oder Norwegen, gehört die EU beispielsweise zu den größten externen Geldgebern des Prozesses. Mit rund 160 Millionen Euro bis 2023 wird insbesondere die bis dato vergleichsweise erfolgreiche Demobilisierung und Reintegration ehemaliger FARC-Kombattant*innen gefördert. Durch internationale Bemühungen im Bereich des Monitoring, beispielsweise durch die VN-Verifikationsmission in Kolumbien und das Team des Kroc-Friedensforschungsinstituts, wird zudem gewährleistet, dass die oben dargestellte Situation durch belastbare Daten belegt werden kann. Auch auf politischer Ebene strebt die EU intensivierte Beziehungen mit Kolumbien an. Anlässlich der Unterzeichnung eines Memorandums zu den künftigen Beziehungen im September 2021 betonte Joseph Borrell, dass „die Implementierung des Friedensabkommens von 2016 als Beitrag zu globalem Frieden und Sicherheit weiterhin das Herzstück unseres Engagements bleiben wird.“

In Anbetracht der besorgniserregenden Entwicklungen der letzten Jahre stellt sich jedoch zunehmend die Frage, ob dies ausreichend ist. Gerade die in den gewaltreichsten Regionen des Landes lebenden Kolumbianer*innen erwarten mehr als nur Absichtserklärungen, Aufrufe zu Gewaltverzicht oder Beileidsbekundungen angesichts einer Regierung, die ihren Verpflichtungen nicht (ausreichend) nachkommt und damit aktiv den Friedensprozess torpediert. Sollte sich dies auch mit der kommenden Regierung fortsetzen, wären neue Akzente in der europäischen und internationalen Unterstützung des Friedensprozesses wahrscheinlich wichtiger denn je, soll Frieden in ganz Kolumbien nicht nur eine Utopie bleiben.

Barometer Initiative, Peace Accords Matrix, Kroc Institute for International Peace Studies, UN Women, FDIM, Sweden (2019) Gender Equality for Sustainable Peace. Second Report on the Monitoring of the Gender Perspective in the Implementation of the Colombian Peace Accord. South Bend/ Bogotá: University of Notre Dame.

Colombia (2016) Acuerdo final para la terminación del conflicto y la construcción de una paz estable y duradera. Bogotá, 12. November 2016. https://www.cancilleria.gov.co/sites/ default/files/Fotos/12. 11_1.2016nuevoacuerdofinal.pdf. (19. Oktober 2020).

Global Witness (2020) Defending Tomorrow: The Climate Crisis and Threats Against Land and Environmental Defenders. https://www.globalwitness.org/en/ campaigns/environmental-activists/defending tomorrow/ (29. September 2020).

(Iniciativa Barómetro, Matriz de Acuerdos de Paz, Instituto Kroc de Estudios Internacionales de Paz (2021) Informe especial del Instituto Kroc sobre el estado efectivo de la implementación del enfoque transversal étnico del Acuerdo Final de Paz de Colombia. South Bend/ Bogotá: Universidad de Notre Dame.)

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